Zeit ist etwas Eigenartiges, etwas Verwirrendes.
Der Kalender hat mir gestern gezeigt, dass ein halbes Jahr vergangen ist, seitdem du nicht mehr hier bei uns bist. Heute sind es 26 Wochen, seitdem ich dich das letzte Mal umarmen durfte, dein
schönes Gesicht küssen durfte. Doch was bedeutet diese Zeit?
Ich habe das Gefühl als wäre dieser 20. Februar gestern gewesen. Alles in mir zieht sich zusammen und droht doch gleichzeitig zu zerreißen. Ich weiß noch genau, wie ich deiner Pädagogin in der
Früh erzählt habe, dass du gerade das Wort "existieren" lernst auszusprechen. Dieses Wort hast du im Bezug auf das Löwenbuch gelernt, dass du dir eingebildet hast. Ich habe mit dir zusammen das
Internet abgesucht über Tage. Und keines der Bücher hat deiner Vorstellung entsprochen, bis mir am 18.2. irgendwann der Geduldsfaden gerissen ist und ich dir gesagt habe, dass die Version des
Buches nicht existiert. Und das Wort hat dir so gefallen. Du hast geübt. "Wir haben kein exestier, wir haben kein ekstastiert, wir haben kein Ecstasy." Und ich weiß noch wie wir alle gelacht
haben und dein Opa hat gesagt, "na das erklär mal, wenn er das in der Öffentlichkeit sagt."
Ich weiß noch wie ich dich an diesem Montag, den 20.Februar in den Arm genommen habe, wie du mir ein Bussi gegeben, deine Bücher genommen hast und aus der Garderobe spaziert bist. Wie ich deiner
Pädagogin noch gesagt habe, sie solle sich nicht über die Aussage: "wir haben Ecstasy" wundern, wie wir geschmunzelt haben und wie du noch einmal kurz zurückgekommen bist um dich noch ein zweites
Mal zu verabschieden.
Ich erinnere mich, wie ich deinem Papa um 11.55 Uhr gesagt habe, ich verräum den Einkauf, trink noch einen schnellen Kaffee und dann hol ich unsere kleinen Monster ab, wie unser Telefonat von dem Anruf der Kiga-Leitung unterbrochen wurde. Wie dieser Anruf, mein Leben ins Stocken gebracht hat. Ich bin losgefahren ohne irgendwas abzusperren und habe deinen Papa nochmal angerufen, der sofort aus Wien losgefahren ist. Dann habe ich Omi und Opi angerufen, sie sollen losfahren und dich auch suchen. Ich erinnere mich, dass mir niemand sagen konnte, in welche Richtung du eigentlich gelaufen bist. Sie haben im Feld hinter dem Bach gesucht und alles in mir hat, trotz deiner Angst vor Wasser, gefühlt, dass du im Wasser bist. Ich weiß noch genau wie ich in den eiskalten Bach gelaufen bin und nach dir geschrien habe - wie dein Papa mich angerufen und gesagt hat: Moni bitte such beim Wasser, er ist im Wasser, Moni bitte, ich spüre das - während ich im Bach deinen Namen schrie und plötzlich Bauchtief im Bach stand. Papa und ich haben beide gespürt, dass du im Wasser bist, gleichzeitig habe ich gewusst, dass es nicht der Bach ist. Aber ich konnte nicht aufhören darin zu suchen, denn er war so kalt und stellenweise so tief. Und ich weiß doch wie sehr du Kälte hasst, wie sehr sie dir weh tut. Kleiner Prinz, es tut mir so unendlich leid und ich werde mein Leben lang die Schuldgefühle in mir tragen, im falschen Gewässer gesucht zu haben.
Ich weiß noch wie der Polizist mit mir zur Stierwiese zurückfahren wollte, um nochmal von dort aus zu suchen und ich werde diesen Funkspruch nie vergessen, der reinkam, während dieser
einminütigen Fahrt. Ich weiß noch, wie ich in der Gasse aus dem Auto sprang und die Polizistin mir irgendetwas nachrief, was, habe ich gar nicht mehr verstanden, denn ich sah nur diese Frau, über
deinen Körper gebeugt, wie sie verzweifelt versuchte dein Herz wieder zum Schlagen zu bringen und dann sah ich dein wunderschönes Gesicht und deine sonst so strahlenden Augen, in denen kein Leben
mehr war. Ich erinnere mich wie ich mich über dich beugte um dich zu beatmen und wie eiskalt du warst. Und plötzlich war die Polizei da und die Sanitäter. Der Hubschrauber landete. Ich weiß noch
wie der Arzt versucht hat dein Shirt aufzuschneiden und nicht durchkam mit der Schere, wie ich es zerrissen habe. Deine Stiefel, die so schwer abgingen, weil sie voller Wasser waren. Wie Papa,
Oma und Opa ankamen. Wie sie versuchten stark zu sein. Ich habe gebetet, ich habe gefleht und gebettelt, dass du überlebst. Der Defibrillator, der zweimal einsetzte und ich weiß noch, dass mein
Herz gespürt hat, wann du endgültig aufgehört hast für das Leben zu kämpfen, noch am Unfallort. Ich kann es bis heute nicht erklären, aber ich hatte das Gefühl deine winzig kleine Hand an meiner
Wange zu spüren. Der Notarzt erklärte mir, dass sie dich mit dem Krankenwagen transportieren müssten, der Hubschrauber wäre keine Option, aber ich dürfte mitfahren. Dein Papa wurde nach Hause
gebracht um Gewand für uns beide zu holen und anschließend ins Krankenhaus gefahren. Ich weiß noch, dass ich dein Bein im Krankenwagen und im Krankenhaus streicheln durfte, dein Bein dass sich
anfühlte wie ein Eisblock, deine Haut, die sich so falsch anfühlte. Und ich weiß noch, wie die Ärzte nach über zwei Stunden, ihren Kampf um dein Überleben aufgaben. Ich legte mich zu dir ins Bett
und hielt dich fest in meinen Armen, während mein Gehirn zu keinem klaren Gedanken mehr fähig war. Dann kam dein Papa ins Zimmer, in der Hand deinen Lieblingspyjama. Ich erinnere
mich an seine Verzweiflung und daran, dass er es nicht begreifen konnte und wollte, dass du geliebter Schatz nach mehr an unserer Seite bist und ich hatte Angst um ihn, denn es wirkte als würde
er den Verstand verlieren. Die Krankenschwester kam rein, wir haben deinen kleinen Körper gewaschen und dann habe ich dir deinen Pyjama angezogen, deinen dir heiligen T-Rex Pyjama. Ich hab deinen
Papa zu uns ins Bett geholt, zum Kuscheln.
Irgendwann musste ich deine Oma anrufen. Mein Herz war leer, ich funktionierte. Doch nachdem ich das Unaussprechliche ausgesprochen und aufgelegt hatte, fing ich an zu schreien, mein Handy zu
werfen, ich wollte mir selbst weh tun, mein eigenes Leben nicht mehr haben, bis ich schließlich schluchzend zusammenbrach und die Krankenschwester mich in den Arm nahm. Als ich den kleinen Raum
verließ und mich zu dir kuschelte, machte der Wahnsinn in meinem Kopf wieder Pause. Scheinbar schaltete mein Verstand oder was auch immer das Chaos in meinem Kopf ab, damit ich mich auf dich
konzentrieren konnte. Ich erinnere mich an jedes Detail, jeden Millimeter, deines perfekten Gesichts, an deine blasse Haut, an jede Ader. Daran wie ich meinen Kopf an deine Brust legte und an den
Moment der Erkenntnis, dass ich deinem Herzschlag und deinem Atem nie wieder würde lauschen können, wie ich es sonst jede Nacht machte, wenn du eingeschlafen warst.
Ich werde nie vergessen wie ich die Welt deiner Schwester zerstörte, als ich ihr erklärte was passiert war. Ihre schmerzerfüllten Augen werden mich - genauso wie deine weit aufgerissenen, leeren - nie wieder loslassen. Dein Zwillingsbruder Miro wusste es von Anfang an und neben deinem Bett hat er nur von den Windrädern erzählt. Nichts sollte mehr sein wie früher.
Ich erinnere mich wie die Polizei abends kam um uns zu befragen und wie wütend ich war. Denn ich wollte verdammt nochmal nur bei dir sein und
dich festhalten.
Deine Omi hat dich gekuschelt während wir zur Aussage mussten, du warst nie allein. Wir haben dich noch lange gekuschelt und wir konnten uns einfach nicht von dir trennen, aber uns war klar, dass
wir das mussten, denn zu Hause warteten doch noch unsere Jozefina und unser Miro. Aber wie in aller Welt, sollten wir uns von dir verabschieden, wie sollte ich dich dort alleine liegen lassen, wo
du doch schon nach mir geschrien hast, wenn ich nur aufs Klo ging. Ich habe dir dein Schlaflied vorgesungen. Oma und ich haben dir die Socken angezogen, die dein Papa für mich mitgebracht hatte,
denn ich weiß ja, dass du Socken brauchst, denn die Kälte schmerzt dich. Dann haben Papa und ich das letzte Mal euer Gute-Nacht-Gebet für dich gesprochen, während sich jede Faser meines Körpers
gegen das Beten gesträubt hat. Wir haben noch Herzen in die Luft geschickt und mit unseren Händen einen Hund nachgemacht, so wie du es jeden Abend verlangt hast. Schließlich hast du deine
letzten Küsse bekommen. Drei auf die Stirn, dann das Nasenbussi und schließlich ein Kuss auf deine Lippen. Ich habe die Augen geschlossen und nach deinem Atem gelauscht, meinen Kopf wieder
verzweifelt an deine Brust gelegt. Ich habe dir gesagt, dass ich dich unendlich und ewig liebe und dass du bitte auf mich warten sollst. Mein wunderschöner Martin, dich in diesem Zimmer, in dem
viel zu großen Bett alleine zu lassen, war das Schwerste was ich in meinem ganzen Leben musste. Und als ich den Raum bereits fast verlassen hatte, rannte ich nochmal zu dir, ein letztes
Mal, mein Baby zu spüren und als ich dich dieses letzte Mal kuschelte, wurde mir bewusst, dass dein Körper, Stunden nachdem du für tot erklärt wurdest, so viel wärmer war, als am Anfang. Deine
wunderschöne perfekte Haut, hatte sich bereits zu verfärben begonnen, aber die Körpertemperatur sich wieder reguliert. Dieser Gedanke, erstickte mich schier. Dein Onkel brachte uns nach Hause, an
die Autofahrt kann ich mich kaum erinnern, nur dass vor unserem Haus, schon fast die ganze Familie versammelt war. Ich konnte nicht einmal mehr weinen, ich war wie ein Roboter, bis ich deine
Haarsträhne suchte, dich ich dir im Krankhaus abgeschnitten habe und sie nicht sofort finden konnte. Ich glaube in diesem Moment war ich dem Wahnsinn sehr nahe, kleiner Hase. Eure Milchflaschen
habe ich immer zeitgleich fertig gemacht und als ich beide Fläschchen rausnahm und mir dann bewusst wurde, dass ich das nie wieder tun würde, ging ein weiterer Teil von mir kaputt. Ich habe nicht
gewusst, was ich mit meiner zweiten Hand tun sollte, alles fühlte sich fremd an, Meine Augen durfte ich nicht schließen, denn wenn ich das tat, sah ich nur deine weit aufgerissenen, leblosen
Augen, deinen kleinen zierlichen Körper neben diesem Wasser. Ich erinnere mich an jede verdammte Sekunde, dieses Tages und hoffe nach wie vor darauf, eines Tages aufzuwachen aus diesem
furchtbaren Albtraum.
Was ist Zeit? Zeit ist relativ. Es fühlt sich an, als hätte ich dich gestern das letzte Mal umarmt und gleichzeitig fühlt es sich an, als wäre ich schon viel länger, in dieser, meiner
persönlichen Hölle, als nur sechs Monate. Der Blick auf den Kalender sagt mir 26 Wochen sind vergangen, erst 26 Wochen habe ich diese Hölle überlebt. Wie soll ich das noch so lange ohne dich
schaffen, kleiner Martin, mein kleines Herz. Bitte kleiner Prinz, warte auf mich, denn ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dich wieder in meinen Armen zu halten, während ich deinem Atem und
deinem Herzschlag lausche.
In diesem halben Jahr haben wir gelernt, nach außen hin zu funktionieren, wir tragen unsere Masken; wir lachen, wir spielen, wir funktionieren und doch ist alles nur Fassade.
Ein halbes Jahr ist vergangen, doch unsere Welt steht seit dem 20 Februar still.
Ich liebe dich kleiner Martin, über alles und für immer und ewig.
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Julia B. (Montag, 21 August 2023 13:59)
Dieser Schmerz…keine folter dieser Welt könnte schlimmer sein! Selbst mit zerreißt es das Herz!
Susi (Montag, 21 August 2023 14:13)
Mein geliebter Engel, ich vermisse dich so schmerzlich, ich hoffe du bist frei von allen Lasten und Grenzen da wo du jetzt bist. Deine Tante Susi
Kerstin P. (Montag, 21 August 2023 15:32)
Es ist kaum zu ertragen zu lesen, was ihr durchleben musstet und durchlebt..... Diese Machtlosigkeit, der ihr ausgeliefert seid..... Dieser tiefe unendliche Schmerz......
Ich wünsche euch von Herzen, dass dieser Schmerz irgendwann etwas leichter wird�
Jessica K. (Montag, 21 August 2023 17:45)
Mir zerreißt es mein Herz beim Lesen. Meine 7 Jahre alte Tochter kommt zu mir und sagt Mama warum weinst du und weint mit mir mit. Ich konnte nichts sagen außer sie in den Arm nehmen und ganz fest drücken. Liebe Monika du bist eine unglaublich starke und tolle Mama fühl dich ganz stark gedrückt.
Melanie (Dienstag, 22 August 2023 12:56)
Mein tiefstes Mitgefühl und Bewunderung nach all dem Erlebten weiter zu kämpfen! Sehr berührend geschrieben, ich war den Tränen nahe! Wünsche noch viel Kraft, deine Kinder brauchen dich und irgendwann seit ihr alle wieder vereint.
Maria (Dienstag, 22 August 2023 17:37)
Liebe Monika,
ich bin auch Mama eines FKA und es zerreißt mir das Herz zu lesen, was ihr durchleben musstet und müsst.
Ich wünsche euch alle Kraft der Welt!
Kathi (Donnerstag, 24 August 2023 07:45)
Ich habe so geweint beim Lesen. Es ist unvorstellbar was du durchmachen musst. Ich wünsche euch, dass ihr irgendwann in dankbarer Erinnerung zurückschaun könnt und euch der Schmerz nicht mehr zerfressen!
Simone (Freitag, 25 August 2023 17:38)
Ich weine. Ich finde keine Worte.
Barbara (Samstag, 26 August 2023 17:56)
Mir fällt es sehr schwer, angesichts eures riesigen Verlusts die richtigen Worte zu finden. Gleichzeitig bewundere ich dich für deine Stärke, Martins Vermächtnis so lebendig zu halten.
Ulrike (Sonntag, 27 August 2023 08:04)
Euer Engel wird immer bei euch sein. Es ist unvorstellbar was ihr durchmacht.
Der Blog ist ein tolles wunderbares Vermächtnis für Martin und zum Thema Autismus-Spektrum.
Mein Sohn ist auch im Spektrum und ich kenne die Schwierigkeit mit der "Außenwelt" leider auch zu gut.
Du bist eine starke Frau und ich wünsche dir und deiner Familie das ihr Frieden findet ❤️
Cindy (Sonntag, 27 August 2023 09:34)
Mein tiefstes Mitgefühl! Ich hoffe ihr könnt irgendwann wieder mit einem kleinen Lächeln an die wunderbaren Momente, die euer Engel euch geschenkt hat, zurückblicken.
Renate kratschmayr. (Donnerstag, 31 August 2023 10:41)
Es ist das schlimmste, ein kind zu verlieren. Und trotzdem bewundere ich dich, fuer deine kraft, das alles aufzuschreiben. Ich kaempfe mit traenen. Und ich wuensche dir und deiner familie ganz viel kraft. In euren herzen wir euer kleiner prinz ewig weiterleben. Alles liebe, renate