MARTINS VERMÄCHTNIS – Was bedeutet Autismus für Familien – Teil 10
In diesen Sommerferien, in dieser Zeit der Entschleunigung des Alltags, war so viel passiert. Fast nicht merklich, in winzig kleinen Schritten und doch waren es
gesammelt riesige Fortschritte. Unser Martin sprach, klar der Unterschied zu gleichaltrigen Kindern war immens, aber er hatte gelernt seine Wünsche zu äußern. Dies ging natürlich nur, wenn er
selbst entspannt war, dennoch war das ein unglaublicher Fortschritt, einer mit dem wir niemals gerechnet hatten. Über den Sommer war er auch „sozialer“ geworden, wobei das vielleicht der falsche
Ausdruck ist. Er suchte die Gesellschaft von anderen Kindern, auch hier galt, nur dann, wenn er selbst entspannt und nicht zu vielen Reizen ausgesetzt war.
Langsam war es sogar leichter geworden mit beiden, Miro und Martin zusammen am Tisch zu arbeiten, beide gleichzeitig zu fördern. Für mich als Mama ein eine unglaubliche Erleichterung. Denn so
konnte ich alle meine drei Kinder gleichzeitig bei mir haben, ohne mich zerreißen zu müssen. Wenn ich zurück denke, an April, Mai 2022 - ein Riesen Unterschied. Denn da konnten unsere Lieblinge
gar nicht gut zusammen arbeiten. Sie irritierten sich immer gegenseitig – was einfach nur zu Chaos und Handgreiflichkeiten führte. Damals musste ich unseren beiden Buben die Haare ganz kurz
schneiden. Denn sobald irgendeine Welle der Reizüberflutung sie übermannte, gingen sie aufeinander los. Meistens vergruben sie die Haare in den Haaren des jeweils anderen, nicht etwa um daran zu
reißen, sondern um einen „Gegenstand“ in ihren Händen zu halten, den man gegen den Boden, Wände, etc. knallen konnte. Nicht nur einmal kamen wir in diese Situation. Es reichte vollkommen aus,
dass ich etwas aus dem Kühlschrank holte, Jozefina in den Arm nahm um sie zu trösten oder sonst irgendeine Kleinigkeit, die eigentlich meist nur ein paar Sekunden andauerte.
Doch davon war nun kaum mehr etwas merklich, wir hatten Strategien entwickelt und meine „Antennen“ waren ebenfalls viel feinfühliger geworden. Meist spürte ich die emotionale Überforderung der
Beiden, bevor es zu einer schwierigen Situation kam.
Unser Martin hatte über den Sommer, die Frage: „Und dann?“ für sich entdeckt und auch wenn mich dieser kurze Satz an manchen Tagen wirklich zur Verzweiflung brachte, so war er für ihn doch ein
riesen Anker. Für ihn bedeutete die Frage „Und dann?“, mit der dazugehörigen Antwort, einfach nur Sicherheit. Somit war für ihn der Ablauf klar, tatsächlich klarer und logischer als mit unserem
Foto-Tageskalender. Er fragte zwar gefühlt hundertmal nach dem gleichen Ablauf, doch als ich endlich begriff, wie viel Sicherheit ihm dieses ständige Wiederholen des Tages gab umso einfacher war
es für mich, von dieser Frage, nicht mehr genervt sein. (Es nervte natürlich trotzdem, man möge das nicht falsch verstehen, aber es wurde dadurch auch für mich leichter, weil ich die Fragerei,
als positiv verzeichnen konnte, auch wenn ich mich selbst immer wieder daran erinnern musste.)
Miro brauchte auch weiterhin, den Fotokalender (auch wenn selbst dieses Hilfsmittel oft eher semi-erfolgreich wirkte), denn auch wenn bei beiden Jungs, vieles entwicklungstechnisch voran gegangen
war, so lagen die sprachlichen und kognitiven Fähigkeiten von Miro und Martin, doch sehr weit auseinander. Unser Miro kannte viele Wörter und konnte auch ganze Sätze wiedergeben, allerdings
verstand er den Sinn davon, nur in einem bestimmten Kontext; Wenn ich zum Beispiel gerade Martin wickelte und Miro daneben stand und ich ihn dann aufforderte, mir die Feuchttücher zu reichen,
klappte dies sogar häufig. Wenn ich ihn jedoch bat, mir die Feuchttücher zu bringen, ohne dass ich seinen Bruder wickelte – also in einem anderen Kontext – verstand er nicht was das Wort
„Feuchttücher“ überhaupt bedeutete. Er konnte also in auswendig gelernten Situationen, die scheinbar richtigen Sätze sagen und darauf reagieren, auch wenn er den Sinn dahinter gar nicht richtig
verstand.
Manchmal machte es mich doch sehr traurig, wenn ich über meinen Miro nachdachte, nicht etwa weil er mir nicht genügte, so wie er war, sondern weil ich mir für meine Kinder immer ein viel
leichteres Leben gewünscht hatte. Und auch wenn es keiner meiner drei Lieblinge leicht hatte, so war meine Sorge um Miros Zukunft, doch meist die größte. Denn oft wirke er sehr verloren und
verwirrt. Manchmal erinnerte uns an den Hahn „Heihei“ aus Vaiana. Wie oft schoss mir der Satz, „Mein armes Heihei“, durch den Kopf. Und das meinte ich nie böswillig, sondern absolut liebevoll.
Vielleicht auch deshalb, weil wir diesen Film gefühlt 500 Mal mit ihnen anschauen mussten und wir das Hühnchen gleich ins Herz geschlossen hatten, wegen der Parallelen. Jedenfalls, glaube ich,
erklärt dies relativ gut, warum manchmal auch die Traurigkeit hochkam.
Abgesehen davon, bereitete es mir Sorgen, denn wenn man nicht genau hinsah, könnte man vielleicht sogar meinen, dass bei unserem Miro tatsächlich ein richtiges Sprachverständnis vorhanden war.
Wenn man der Meinung ist, ein Kind versteht einen, dann traut man ihm auch mehr zu und dies führt dann natürlich auch zu einer Überschätzung der Fähigkeiten des Kindes und zu einer größeren
Erwartungshaltung, was meines Erachtens nach, gar nicht so ungefährlich ist.
War es bei Miro das Sprachverständnis und das Bild dessen nach außen, was mir Sorgen bereitete, so war es bei Martin, seine ganze Art. Denn auch wenn unser Martin viel „ruhiger“ und
ausgeglichener wirkte, so kamen seine „Wutanfälle“ und auch sein Weglaufen, dafür umso plötzlicher und unvorhersehbarer. Klar, ich als seine Mama, hatte einfach mehr Gespür als sonst jemand, aber
einfach deshalb, weil ich zwischen 17 und 22 Stunden pro Tag, aktiv mit ihm verbrachte. In dieser Zeit lernt man halt auch einfach extrem viel über sein Gegenüber. (Übrigens war das der Punkt,
denn ich mir immer als positiven Aspekt vor Augen hielt, und der mich somit auch vorantrieb, wenn ich dachte, dass der Schlafentzug durch die Jungs, mich irgendwann einfach umkippen lassen
würde.) Natürlich funktionierte es mit Martin also ganz toll, wenn Mama daneben war, denn wir waren über die Jahre ein eingespieltes Team geworden. Aber wenn wir zum Beispiel, irgendwo, mit
irgendjemandem spazieren gingen, so war Martin immer bei mir an der Hand, denn jene Menschen die mehr Kontakt mit uns hatten, kannten seine „unvorhersehbaren“ Ausbrüche und fühlten sich
somit selbst auch sicherer, wenn sie Miro an der Hand halten durften.
Unsere Buben konnten wir nur in komplett abgesichertem Gelände von der Hand lassen, oder aber auf unserem täglichen Spaziergang, am Feldweg – zu den Windrädern – und dies auch nur, wenn wir
mindestens zwei Erwachsene waren.
Den Spaziergang zu den Windrädern liebten die Kinder, Miro – eben wegen seiner heiß geliebten Windräder und Martin und Jozefina, weil sie dort oft zu zweit, Hand in Hand laufen konnten, was sie
wirklich liebten, bis Martin oft einfach loslief. Denn auch wenn sein Weglaufen, vorrangig auf seine Weglauftendenz zurückzuführen war, so hielt er es manchmal, doch auch einfach für ein
Spiel.
Somit ist glaube ich auch klar, dass es selbst in diesen alltäglichen Situationen, notwendig war, ständig direkt hinter ihnen zu sein und sie nicht für eine Millisekunde aus den Augen zu
lassen.
Klar oft genug reagierte Martin sogar auf mein „Stopp“, wenn er nicht direkt an meiner Hand ging, dennoch traute ich dem nie genug.
Ein Satz von mir, der sicher viele Menschen, die mit uns zu hatten, genervt hat, war: „Ich liebe meinen Martin abgöttisch, aber ich vertraue ihm nicht.“ Viele Leute meinten, warum ich denn
eigentlich so komisch sei, es würde doch eh so toll funktionieren. Martin hätte sich doch so gut entwickelt und ich würde übertreiben. Wenn es die Gegebenheiten zuließen, ließ ich sie Martin
übernehmen – immer darauf gefasst, sofort einzugreifen, wenn es notwendig sein sollte. Einfach damit die Menschen verstanden, was ich meinte und um ihr Bewusstsein zu schärfen, ein Verständnis
für Martin und seine Reaktionen zu schaffen. Denn nein, ich vertraute selbst meinem Instinkt nicht, denn auch wenn ich meinen Martin, wie wohl sonst niemand, kannte, so musste auch ich
blitzschnell reagieren können. Man lebt eigentlich in ständiger Anspannung, denn man muss immer bereit sein, einzugreifen oder aber loszusprinten. Und jene Leute, die dann kurz die Aufgabe
„übernahmen“, auf Martin aufzupassen, wussten plötzlich ganz genau wovon ich sprach.
Man sieht also, trotz all der positiven Entwicklungen, wächst auch oft die Sorge mit. Und die größte stand uns erst bevor, denn sehr bald schon, sollte der Kindergarten wieder starten und damit
auch eine große Veränderung in das Leben von Miro und Martin treten – der Wechsel der Integrationspädagoginnen stand uns bevor. Und wir Eltern hatten davor wirklich eine riesige Angst. Nicht nur
weil unsere beiden Schätze, Veränderungen hassten und sehr schlecht damit klar kamen, sondern auch wegen all der tollen Entwicklungen und der beschriebenen Sorgen, die damit einhergingen.
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Julia B (Dienstag, 19 September 2023 12:14)
Ich für meinen Teil habe nie daran gezweifelt das es leicht wäre mit ihnen einfach nur spazieren zu gehen! Das man immer und wirklich IMMER jede Sekunde acht geben muss! Was man aber Vl nicht bedenkt ist, das sogar ein „einfacher“ Zoobesuch für euch Eltern nicht wirklich zu genießen ist! Hochachtung vor euch und eurer Leistung!!!
Alex (Donnerstag, 21 September 2023 19:03)
Danke, dass ihr eure Erfahrungen und Erlebnisse mit uns teilt. Ich wünsche euch viel Kraft und Mut weiter zu kämpfen für die Sensibilisierung und Aufklärung zum Wohle, für die Gesundheit und dem Überleben unserer ganz besonderen Kinder. Für ihre und unserer Zukunft. DANKE ❤️
Nori (Dienstag, 26 September 2023 18:15)
Beim Lesen dieses aufrichtigen Textes konnte ich jedes Wort mitfühlen. Danke für‘s Kämpfen für mehr Akzeptanz. Bleib dran. Ich war irgendwann zu „müde“ mit 2 ASS gegen Windmühlen zu kämpfen. Es lohnt sich immer mit viel Liebe und Ausdauer für unsere „besonderen“ kleinen Menschen da zu sein. Heute sind meine groß, selbsstständig und unglaublich klug…anders klug…. Alles Liebe für euch!