Es dauerte nach dem Geburtstag der Jungs einige Tage, bis langsam wieder Ruhe einkehrte, oder zumindest das was wir als Ruhe empfinden, in unserem kunterbunten Chaos.
Ich muss ganz ehrlich sagen, dass ich die zwei Vormittage pro Woche - an denen keine Therapie und ich somit viereinhalb Stunden für mich hatte – wirklich genoss. Zu dieser Zeit, machte wirklich
nur das Notwendigste im Haushalt, um so wenigstens noch zwei Stunden nur für mich zu haben, so sah zumindest der Plan aus. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass mich diese freie
Zeit unglaublich überfordern würde. Denn ich war scheinbar in den letzten Jahren einfach aus der Übung gekommen, was die Gestaltung meiner „Freizeit“ und Erholungsphasen betraf. Es brauchte
einige Anläufe meinerseits, bis ich es tatsächlich schaffte, mich ohne schlechtes Gewissen und wahrhaftig entspannt, einfach nur mit einem Buch in den Garten zu setzen oder aber bei
Hintergrundmusik meinen Kaffee wirklich zu genießen. Und so nahm ich mir fest vor, zumindest einen Vormittag pro Woche nur für mich zu reservieren, um selbst auch wieder zur Ruhe zu kommen. Den
zweiten Tag nutzte ich um das Zimmer unserer Jozefina umzugestalten – neue Aufteilung, neue Möbel – ein Rückzugsort für ein mittlerweile gar nicht mehr so kleines Mädchen. Während ich den
Schreibtisch für immer Zimmer aufbaute, dachte ich viel über meine Prinzessin nach. Jozefina war so ein einfühlsames Kind, mit einem riesen Herzen, immer wollte sie sofort zurückstecken, für ihre
beiden autistischen Brüder, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Wenn wir ihr versuchten zu erklären, dass sie das nicht bräuchte, denn sie und ihre Bedürfnisse wären genauso wichtig, dann
meinte sie schlichtweg, „Nein, alles gut, ich mag das sowieso nicht mehr machen/spielen.“ In unserem doch etwas anderen Familienleben, war Jozefina mein großes Sorgenkind. Egal wie sehr wir uns
bemühten, dass sie einfach nur Kind sein konnte, das Leben mit, und die Reaktionen der Gesellschaft auf Miro und Martin, hatten sie geprägt. Ich war froh, dass ihr die Zeit bei ihrer Psychologin
gut tat und half, auch wenn die Fortschritte klein waren.
Jozefina, unser liebes Mädchen, dass Gefühle wie Traurigkeit und Wut nicht zeigen wollte, nur damit wir uns keine zusätzlichen Sorgen machten. Wenn ich mit ihr dann, in einer offensichtlichen
Situation, über diese Gefühle sprach, antwortete sie immer nur „Nein ich bin nicht wegen Miro/Martin/ etc traurig, ich habe mir die Zehe gestoßen“, was allerdings nicht den Tatsachen entsprach.
Während wir das besprachen, ging hinter uns sprichwörtlich immer die Welt unter. Und für Jozefina war es ganz schwer auszuhalten, dass sie im Mittelpunkt stand und ich mich um sie, statt um ihre
Brüder kümmerte.
Mein liebes Mädchen, ob sie wohl jemals einfach nur Kind sein können würde? So saß ich da, wieder einmal mit dem Gefühl, als Mama komplett versagt zu haben. Denn egal wie sehr ich mich bemühte,
es war nie genug. Das Einzige, das ich mir immer für meine Kinder gewünscht hatte, war eine sorgenfreie Kindheit, geprägt von Liebe und Verständnis. Ja Liebe und auch Verständnis gab es in diesem
Haus zu Genüge, aber sorgenfrei war definitiv etwas Anderes.
Mit diesen Gedanken im Kopf machte ich ihr Zimmer fertig und räumte noch die letzten Spielsachen und Deko-Gegenstände auf ihren Platz. Ich stand im Türrahmen und freute mich schon auf Jozefinas
Gesichtsausdruck, wenn sie ihr Zimmer sehen würde. Denn ich wusste, sie würde es Lieben und auch die Ruhe von ihren Brüdern genießen, auch wenn sie dies nie zugeben würde.
Als es dann tatsächlich so weit war, wurde sie gar nicht fertig damit, sich zu bedanken, mal wieder schnürte es mir die Kehle zu. Ich erklärte ihr auch, dass sie jetzt durch das hohe
Treppenschutzgitter im Gang, absolute Ruhe in ihrem Zimmer hätte, selbst wenn sie ihre Zimmertür nicht schließen möchte. Sie war glückselig und dennoch war die erste Reaktion, sofort Miro und
Martin in ihr Zimmer mitzunehmen und ihr Glück mit ihnen zu teilen.
Als der große Martin nach Hause kam, schickten wir ihn noch schnell einkaufen, weil mir dafür vormittags einfach die Zeit gefehlt hatte. Danach stand noch der Spaziergang zu den Windrädern an und
ein Besuch bei Oma und Opa. Das hatten wir den Kids fest versprochen. Wir setzten uns also uns Auto, doch als mein Mann dieses startete, fing hinter uns das große Gebrüll an. Unser kleiner Martin
fing an zu schreien, als würde er bei lebendigem Leib gehäutet werden und schlug wild um sich. Jozefina, die ein sehr empfindliches Gehör hat, fing an zu weinen und unser Miro versuchte sich mit
einer Hand die Ohren zuzuhalten, während er die andere Hand zur Faust ballte und damit gegen seinen Kopf schlug. Verwundert und ratlos sahen mein Mann und ich uns an. Was in aller Welt war gerade
passiert? Der kleine Martin schrie so laut, dass er kaum zu verstehen war, also kletterte ich kurzerhand auf die Rückbank zu den Kindern und versuchte ihn zu beruhigen und gleichzeitig davon
abzuhalten, die Innenausstattung des Autos in ihre Einzelteile zu zerlegen. Während ich ihn unter starker Gegenwehr in meine Arme zog, war Papa schon zur Stelle um auch Jozefina und Miro zu
beruhigen. Langsam wurde Martins Geschrei verständlicher und immer wieder hörte ich „88 6“. Dennoch dauerte es noch eine ganze Weile bis mir klar wurde, was tatsächlich der Auslöser war.
Dazu muss man sagen, obwohl mein Mann und ich zum Teil in unserer Musikwahl übereinstimmten, könnten unsere Musikauswahl nicht unterschiedlicher ausgeprägt sein. Und während der große Martin
leidenschaftlich gern Radio Burgenland hörte und mich damit schier in den Wahnsinn trieb, spielte es in meinem Auto – abgesehen von den fixierten Liedern für bestimmte Wege – immer nur Radio
88.6.
So drehte ich mich also wieder nach vorne und tatsächlich, während der kurzen Einkaufsfahrt meines Mannes, hatte er doch tatsächlich den Radiosender verstellt und vergessen wieder
zurückzuschalten. Nachdem wieder der richtige Radiosender im Auto eingestellt war, beruhigte sich die Lage innerhalb von 10 Minuten. Das ganze Drama hatte fast eine halbe Stunde gedauert -
inklusive einer kleinen Bisswunde und zwei neuen blauen Flecken für Mama. Für Martin waren die immer gleichen Abläufe und Routinen so immens wichtig, dass ihn schon, so eine – für uns –
„Kleinigkeit“, dermaßen aus der Bahn werfen konnte.
Als wir an diesem Abend, endlich alle Kinder zu Bett gebracht hatten, hieß es erstmal tief durchatmen. Für meinen Mann, den großen Martin, war es besonders schwer gewesen, denn er machte sich
große Vorwürfe, dass er einfach vergessen hatte, den Sender wieder richtig einzustellen. Es dauerte, bis er annehmen konnte, dass es einfach menschlich war und dass man nicht alles immer bedenken
kann. Wir müssen so viele Dinge beachten, bedanken und immer im Kopf haben, dass es durchaus immer wieder vorkommen wird, eine Kleinigkeit zu vergessen oder zu übersehen – egal wie sehr wir uns
bemühen.
Doch da war noch etwas, das mich beschäftigte. In den letzten Tagen hatte ich eine Veränderung bei unserem kleinen Martin bemerkt. Er fing an sein Umfeld ganz genau zu beobachten und auch zum
Teil zu imitieren. Der kleine Martin versuchte sich, außerhalb von zu Hause, anzupassen, zu maskieren. Da wir nicht wussten, was das für Auswirkungen haben sollte, war es gut dies wenigstens
zusammen besprechen zu können und auch zu überlegen, was das nun für uns als Familie bedeuten würde. Da wir keine Glaskugel haben, die man befragen könnte, blieb uns nur abzuwarten…
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