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Was bedeutet Autismus für unsere Familie? Teil17

Nachdem dann der große Martin endlich wieder von seiner Schulung nach Hause kam, stellte sich langsam wieder unser „normaler“ Alltag ein. Nach seiner Ankunft waren die ersten beiden Tage zwar wieder ziemlich anstrengend, aber auch diese gingen vorbei und im Endeffekt war das ja bereits ein altbekanntes Spiel für uns. Bei jeder Veränderung des Alltags und unserer Struktur tat sich für unsere beiden Buben ein Kampf auf – und somit auch für den Rest der Familie. Veränderungen waren für die Beiden, nach wie vor, schwer zu verkraften und stellten somit unsere Routinen auf den Kopf.
Und auch, wenn ich mich zumindest wieder drei Schritte von meinem kleinen Martin entfernen durfte, so musste ich doch immer in seiner Nähe sein. Erstens weil ich sein Blickfeld nicht verlassen durfte und zweitens, weil er zu diesem Zeitpunkt wieder eine sehr verhaltenskreative Phase hatte. Am glücklichsten war er, wenn ich in meiner Hektik irgendwo einen Stift liegen ließ, wie auch an diesem Tag. Innerhalb von Sekunden malte er ein riesiges Kunstwerk an die Wand. Also hopp, den Schmutzradierer holen und die Wände wieder sauber machen. Rückblickend, bin ich mir nicht sicher, ob er mehr Freude daran hatte, die Wände zu bemalen, oder aber sauber zu machen. Miro und Martin gefielen die Muster so unendlich gut, die durch das Abwischen mit dem Zauberschwamm an der Wand erschienen – die verwischten Farben und die farbigen Wasserschlieren, wenn sie mit dem zu nassen Schmutzradierer über die Wände wischten. Während ich also nach dem trockenen Tuch griff um die Wand abzuwischen und ihren Wasserschlieren Einhalt zu gebieten, sah ich schon aus dem Augenwinkel, wie Martin die große Wasserschüssel anhob. Noch während ich „Martin STOPP“ rief, strahlte er mich mit funkelnden Augen an, nur um im gleichen Moment den Wasserbehälter auszuleeren. Beide Jungs quietschten vor Freude und Begeisterung während sie in der großen Wasserpfütze mitten im Wohnzimmer mit unglaublicher Lebensfreude hüpften und dabei den umliegenden Bereich ebenso unter Wasser setzten. Innerlich verfluchte ich mich selbst, dass ich die Wasserschüssel kurz abgesetzt hatte. Eigentlich sollten mir solche Dinge nicht mehr passieren. Während ich also Martin unter starker Gegenwehr schnappte und ins danebenliegende Kinderzimmer brachte, bemühte sich Miro in der Zwischenzeit darum, die Wasserpfütze auf das Sofa zu bekommen. Also schnell die griffbereit liegenden Handtücher geschnappt und während ich Miro auf den Arm nahm noch schnell die Tücher auf die Wasserlacke – die mittlerweile mehr wirkte wie ein kleiner Teich im Haus – geworfen. Ich zog ganz schnell unsere Jungs um und zog das Treppenschutzgitter zwischen Kinderzimmer und Wohnbereich hinter mir um schnell den Boden wischen zu können, ohne dass Miro und Martin wieder in ihrer selbstgemachten Wasserpfütze hüpfen könnten. Während ich also schnell versuchte alles trocken zu bekommen, hörte ich im Hintergrund wie Miro mit dem Kopf rhythmisch gegen den Kleiderschrank schlug und Martin gleichzeitig „Wir wünschen euch Frohe Weihnacht‘“ sang. Da ich hören konnte, dass Miros Kopf klopfen, sanfter Natur war, wischte ich schnell fertig. Wäre zu dem Zeitpunkt jemand einfach zur Haustüre reingekommen, hätte er sich wohl gedacht, in einer Irrenanstalt gelandet zu sein. Wir gaben aber zugegebenermaßen auch ein merkwürdiges Bild ab. Als ich die Handtücher ins Badezimmer brachte um sie aufzuhängen, hörte ich schon an Martins Gesang, dass ihn irgendetwas nervös machte und gleichzeitig, dass sich Miro Klopfen verändert hatte, also ließ ich Tücher Tücher sein und rannte schnell ins Zimmer zu ihnen. Und das gerade noch rechtzeitig, denn Martin hatte Miro bereits am Shirt-Rücken gepackt und zog ihn wütend in Richtung Zimmermitte. Durch das verrutschte Leibchen am Hals, bekam Miro nun schwer Luft. Als ich Martins Hand von ihm löste, kuschelte sich Miro schnell bei mir ein, während Martin nun krampfhaft versuchte, mich nicht zu schlagen. Man sah ihm in solchen Momenten, die Verzweiflung und den inneren Kampf richtiggehend, an. Alles in ihm schrie danach auf jemanden einschlagen zu wollen, während er selbst versuchte sich davon abzuhalten, da er niemanden verletzen wollte. Diesen Kampf gegen sich selbst verlor er allerdings, als mich seine kleine Faust ziemlich schmerzhaft, zweimal hintereinander in die Seite traf. Nur um dann ganz verzweifelt zu schreien. Als er schließlich nicht mehr um sich schlug, konnte ich ihn immerhin auch in meine Umarmung ziehen, auch wenn ich darauf achten musste, dass sich Miro und Martin dabei nicht zu nahe kamen. Zum Glück kam in diesem Moment der große Martin zusammen mit Jozefina, vom Einkaufen zurück. Nachdem ich meine kleine Jozefina begrüßt und ihr einen dicken Kuss gegeben hatte, nahm mein Mann gleich Miro auf den Arm, um mich zu unterstützen. Es brauchte keine Erklärungen mehr zwischen uns. Außerdem muss ich wohl ziemlich verzweifelt gewirkt haben in diesem Moment. Gemeinsam zählten wir bis 20 und zurück – zuerst auf Deutsch, dann Englisch, Kroatisch, Spanisch und dann wieder auf Deutsch. Und ganz langsam legte sich die Situation wieder. Es dauerte etwas, bis ich schließlich herausfand was der Auslöser war. Miro wollte mit Martin mitsingen und sang aber in einem Rhythmus als dieser – und das war etwas was für den kleinen Martin extrem schwer auszuhalten war. Generell war die Frustrationstoleranz bezogen auf den Zwillingsbruder, noch geringer als sie es ohnehin schon im Alltag war.
Nachdem nun das Chaos beseitigt und wieder Ruhe eingekehrt war, wollten die Kinder unbedingt mit dem Basteln der Weihnachtsdeko beginnen – und ganz ehrlich, ich war richtig erleichtert. Denn das bedeutete, dass sie zumindest für 15 Minuten am Tisch sitzen würden und das eine kurze Verschnaufpause für mich bedeutete. Während ich also schnell die Tischunterlage und die Weihnachtsbilder holte, hielt mein Mann im Wohnzimmer die Stellung mit den Kindern. Er startete die Weihnachtsmusik und tanzte mit ihnen, immer darauf bedacht, alles im Blick zu haben, damit es nicht zu weiteren Eskalationen kommen konnte.
So saßen wir also Anfang Oktober beisammen am Tisch, während wir alle zusammen  Weihnachtsanhänger bemalten und Weihnachtslieder sangen.
Das mag für einige sehr verfrüht wirken, aber die Kinder, vor allem unser kleiner Martin, hatten wohl den „Weihnachts-Wahnsinn“ (so nannte es mein Mann immer) von mir geerbt. Wir liebten die gerade die Vorweihnachtszeit, die sanften Lichter, die Lieder und das Gefühl von Weihnachten. Somit dauerte bei uns die Weihnachtszeit wohl deutlich länger als bei den meisten anderen Familien. Tatsächlich schien dies alles auch unsere Jungs zu beruhigen und hatte somit auch einen großen positiven Effekt für den Rest von uns. Auch wenn uns unsere Freunde gerne ein bisschen auf den Arm nahmen, wegen unseres „Weihnachtswahnsinns“ lebten wir in dieser Zeit immer richtig auf, vor allem da Miro und Martin in dieser Zeit, häufiger mit uns kuscheln wollten und für uns Eltern, war das Balsam für unsere Seelen.
Vor dem Schlafengehen bat Jozefina darum, dass wir wieder gemeinsam Turnübungen machen sollten im Kinderzimmer. Während der große Martin beschloss, lieber aus sicherer Entfernung zuzusehen, machten wir unsere Übungen. Jozefina liebte das, vor allem auch, wenn sie dann die Übungen vorzeigen durfte. Miro und Martin hatten auch Spaß daran und für sie war das eine ganz tolle Imitationsübung, auch wenn diese nicht wie geplant gelang. Abschließend und da sich der Papa den Turnübungen entzogen hatte, durfte er als Pferd herhalten, während die Kinder geeint auf seinem Rücken durch das Haus galoppierten.
Trotz dieser etwas überfordernden Situation am späten Nachmittag, (der ich definitiv hätte vorbeugen können), war es doch ein wunderschöner Tag mit den Kids. Und dennoch war ich dann wahnsinnig erleichtert, als schließlich alle drei Kinder ruhig atmend einschliefen, während der große Martin und ich uns noch für eine halbe Stunde plaudernd, gemeinsam aufs Sofa setzten.
Auch wenn mir zusätzlicher Schlaf sicher gutgetan hätte, war diese ruhige Zeit abends essenziell für unsere Ehe. Denn ansonsten blieb uns keine Zeit um Gespräche zu führen, die nicht nur knappe Anweisungen oder Erklärungen waren. Diese Zeit, die wir uns bewusst nahmen, schweißte uns als Team, als Paar und als Freunde zusammen.

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