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Die fremde Frau im Spiegel

Die fremde Frau im Spiegel

Ich blicke in den Spiegel und da ist sie wieder, diese -mittlerweile vertraute - Fremde. Ich kenne die Gesichtszüge, denn es sind meine, auch wenn sie sich stark verändert haben. Ich kenne diesen Mund, die Nase - die Falten, die leeren Wangen, ein Anblick den ich mittlerweile gewöhnt bin. Aber die Augen, die kenne ich nicht. Denn es sind, nach wie vor, die Augen einer Fremden. Dunkle Ränder, verschwommenen Blick. Ich blicke in diese Augen und dabei erfasst mich ein eisiger Schauer.

Auch wenn mein Aussehen, immer durchschnittlich war, so waren meine Augen doch das, was ich immer am meisten gemocht hatte. Denn trotz allem, was ich davor erlebt hatte, waren es doch wunderschöne Augen. Denn sie waren erfüllt von Liebe, Wärme, Stolz, Zuversicht und pure Lebenslust und Freude. Ich blicke in den Spiegel und das Feuer, welches einst in diesen Augen gelodert hat, ist erloschen.

Ich kann nicht einmal einordnen was in diesen Augen zu sehen ist und das macht mir Angst, Angst mich selbst zu verlieren. Ich blicke in diese blauen Augen und habe dabei das Gefühl als würde das Blau sich trüben. Ich blicke in diese fremden Augen und sehe trübes Wasser. Ich schließe meine Augen, doch da ist es bereits wieder zu spät. Ich sehe das Biotop und meinen wunderschönen kleinen Martin. Seine Haut - wie Porzellan und doch durchscheinend, sein sonst immer zerstrubbeltes Haar, liegt nass an seinem Kopf an. Diese wunderschönen sonst immer so lebhaften Augen, blicken starr und weit aufgerissen gen Himmel. Man sagt: "die Augen sind das Fenster der Seele."

Ein Satz, den ich erst richtig verstanden habe, als ich in die plötzlich leeren Augen, meines geliebten Sohnes blicken musste. In meinem Kopf fangen die Erinnerungen an ihn an, sich zu vermischen. Während ich ihn dort am Wasser sehe, höre ich seine Stimme. Ich höre wie er schrill und panisch "Mama" ruft. Ich kann die Gedanken nicht voneinander trennen, ich kann sie nicht abschalten. Ich fange an sein Schlaflied zu singen, um mich selbst zu beruhigen und öffne langsam wieder die Augen. Ich blicke in die Augen der Fremden Frau, sehe diese sie verschlingenden Gefühle. Hallo Schmerz, Hallo Trauer. Es fühlt sich nicht an als wären es Gefühle, sondern als wären sie ein Teil von mir - nach Martins Tod waren sie meine Konstante.

Mein kleiner Miro ist aufgewacht. Ich höre ihn weinen. Das Weinen wird schnell panisch. Jetzt ist er es, dessen Stimme schrill und ängstlich nach mir ruft. "Mama, mein Martin ist weg." Ich halt ihn im Arm und schaukle langsam gemeinsam mit ihm vor und zurück. Mama mein Martin ist weg. Martin ist mein Bruder. Mama ich will auch in den Himmel. Bitte, Mama. Ich vermisse ihn so sehr. Mama bitte hilf mir. ich will nicht mehr alleine sein." Ich halte ihn ganz fest. Ich rede mit ihm. Wir weinen zusammen. Wir sind zusammen traurig. Als er sich beruhigt, möchte er gerne zu Martins Gedenk-Platz gehen. Er nimmt das Foto von ihnen Beiden und rollt sich auf dem Teppich ein. Ich kuschle mich an seinen Rücken und decke uns beide zu. So liegen wir, bis er wieder reden möchte - aber nicht mit mir. Er erzählt seinem Bruder, dass er ihn furchtbar vermisst und erinnert sich an gemeinsame Erlebnisse mit ihm. Das alles erzählt er seinem Martin, während er das Foto seines verstorbenen Zwillingsbruders anschaut.

Nach fast zwei Stunden intensivstem Trauern und Weinen, versiegen seine Tränen. Er möchte gerne Windräder schauen. Diese Zeit nutze ich um zur Toilette zu gehen und meine Gedanken zu ordnen. Seit einem Monat, wacht er jede Nacht so auf. Der Ablauf ist jede Nacht der Gleiche - die Verzweiflung und Hilflosigkeit ist jede Nacht die Gleiche. Das einzige was sich ändert ist meine Wut. Denn die wird mit jedem Mal, das ich mein Kind so leiden sehe, stärker. Während ich meine Hände wasche, hebe ich den Kopf und blicke in den Spiegel. Da ist sie wieder, die fremde Frau. In ihren Augen lodert diesmal ein Feuer, ein Feuer so stark als möchte es die ganze Welt verschlingen.

Ich wende den Blick ab, denn diese Augen machen mich beklommen, denn in ihnen ist kein Platz für Liebe. In ihnen wohnt nur reine Zerstörungswut. Ich gehe zurück zu meinem Miro. Gemeinsam schauen wir sein Windrad-Video fertig und anschließend spielen wir gemeinsam. Irgendwann sieht er ganz traurig an mir vorbei und sagt mir, wie sehr er seinen Martin vermisst und wie weh es tut. Wir halten das gemeinsam aus.

Später irgendwann stehen dann auch Jozefina und der große Martin auf. Die Welt dreht sich und das Leben geht weiter - also irgendwie. Jozefina und Miro spielen zusammen, wir Großen trinken Kaffee. Während ich die beiden beobachte, wie sie sich gegenseitig durchs Haus jagen, sehe ich meinen kleinen Martin bei ihnen - ein bittersüßes Bild, denn ich weiß, dass es in der nächsten Sekunde einer grausamen Realität weicht.

Ich lächle, denn ich fokussiere mich auf das Lachen von Jozefina und Miro. Schließlich ziehen wir uns an, um den Einkauf zu erledigen. Miro nimmt plötzlich mein Gesicht zwischen seine Hände und schaut mir tief in die Augen. Wenn er das macht habe ich immer das Gefühl, er sieht bis in den tiefsten Winkel meiner "Seele". Er sieht mich eine Weile konzentriert an und sagt dann schließlich. "Ich liebe dich auch Mama. Mama vermisst den Martin auch so viel." Sein Blick wird weich, mein Herz auch. Er umarmt mich. Jozefina auch. So sitzen wir drei aneinander gekuschelt und schweigend im Vorzimmer. Plötzlich springt er auf und möchte zum Spiegel gehoben werden. Jozefina daraufhin natürlich auch. Miro umschlingt mein Gesicht und drückt mir einen dicken Kuss auf die Wange. Jozefina lehnt ihren Kopf an meinen. So stehen wir vor dem Spiegel und ich blicke die Frau im Spiegel an. Ihre Augen wirken nicht mehr ganz so fremd. In ihren Augen ist noch immer so unendlich viel Liebe und da ist noch etwas. Etwas das ich die ganze Zeit übersehen habe. Da ist Kampfgeist und ein starker, unbeugsamer Wille. Ich blicke in diese Augen und erkenne die Frau im Spiegel. Es ist jene Frau, die bereit ist alles für ihre Kinder zu tun und dafür dass es ihren Kindern gut geht. Die Wut, die Trauer, der Schmerz - sie alle gehören nun zu meinem Leben, diese Gefühle sind mit mir verwachsen. Aber sie sind es auch die mich antreiben, antreiben etwas zu verändern, damit keine Familie mehr aus Unwissen und Ignoranz von außen, durch die gleiche Hölle gehen muss, wie unsere Familie.

Ich betrachte uns drei im Spiegel und neben all dem Schmerz, spüre und sehe ich so unendlich viel Liebe. Miro reißt mich mit seinem freudigen Lachen aus meinen Gedanken. "Mama, Martin ist fröhlich." Ich blicke sein Gesicht im Spiegel an, das dem meines geliebten kleinen Martin so unglaublich ähnelt und sage ihm, dass er im Spiegel sich selbst sieht. Das weiß er. Er blickt meinem Spiegelbild tief in die Augen und wiederholt seine Worte.

Das Einzige was mir bleibt ist seinen Worten zu lauschen und darauf zu hoffen, dass sie wahr sind. Denn das würde bedeuten, dass ich eines Tages, mit meinem geliebten Sonnenschein Martin, in welcher Form auch immer, wieder vereint wäre.

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