Hier bin ich - ganz unten. Alles um mich herum ist dunkel und kalt. Heute ist es besonders schwer – Es ist einer jener Tage, an denen nichts mehr
geht.
Die Kerze brennt, ihre Flamme leuchtet in der Dunkelheit. Sie leuchtet, sie leuchtet seit 232 Tagen. Es ist nicht dieselbe Kerze, aber die selbe Flamme, welche seit dem 20.Februar brennt.
Vorsichtig entzünden wir mit der noch brennenden Kerze, die Nächste. Vorsichtig, denn keiner von uns, ist bereit diese Flamme erlöschen zu lassen. Ich weiß, es ist eigentlich total irrational und
doch sind wir noch nicht bereit dafür.
Seit 232 Tage leuchtet eine Kerze für dich, kleiner Martin. Sie erhellt den Raum in der Dunkelheit, an deiner Stelle.
Seit 232 Tagen, lebt diese Leere in mir. Mir ist kalt kleiner Martin, eiskalt und selbst 100 Decken könnten nicht wärmen. Es ist eine andere Kälte – eine Kälte die Schmerzen verursacht, einen so
unmenschlichen Schmerz, dass ich die körperlichen Schmerzen nicht mehr wahrnehmen kann, denn sie wirken daneben so klein. Du fehlst mir so sehr mein wunderschöner, perfekter, kleiner Martin. Ich
sehne mich danach, dich endlich wieder in meine Arme ziehen zu können, dein perfektes Gesicht zu streicheln und mit Küssen zu überdecken, deine wunderschöne Stimme zu hören.
Und doch bleibt mir mein sehnlichster Wunsch verwehrt. Denn ich kann nicht zu dir kommen, ich darf es nicht kleiner Löwe, noch nicht. Da sind Jozefina und Miro, die mich so sehr brauchen, für die
ich stark sein muss, für die ich Lächeln muss, für die ich Mama sein muss und zwar voll und ganz. Ihre kleinen, schönen Gesichter geben mir die Kraft, die ich brauche um zu überleben, um einen
Schritt nach vorne zu gehen, wenn ich es nicht mehr kann. Ihre liebevollen Erinnerungen an dich, helfen mir zu lachen. Jozefina und Miro sind mein Anker, auch wenn ich weiß, dass es nicht fair
von mir ist, ihnen diese Aufgabe zuzuschreiben. Doch um ihr Fels zu sein, brauche ich einen Grund um weiterzumachen und dieser Grund sind nun mal die Beiden. Es ist wie ein Kreis, der sich
schließt.
Miro sieht dir im Moment so verdammt ähnlich kleiner Martin, obwohl ihr eineiige Zwillinge seid, habt ihr, zumindest für mich, immer so unterschiedlich ausgesehen. Doch Miro sieht dir momentan
zum verwechseln ähnlich und wenn er dann dein Lachen, oder deine Grimassen imitiert, dann weiß ich oft nicht, wie ich atmen soll. Es schnürt mir die Luft ab. Einen kurzen Augenblick, fühle ich
mich, als wärest du an meiner Seite mein Sonnenschein, doch in der nächsten Sekunde zerreißt es mir mein Herz. Und genau in diesem Moment darf ich mir nichts anmerken lassen, ich darf es einfach
nicht. Denn auch unser Miro macht das um dir Nahe zu sein und manchmal auch, weil er meine Trauer spürt. Oft sieht er mich so intensiv an, wenn wir zusammen spielen und lachen und legt mir dann
seine Hand an die Wange, während er sagt: „Mama lacht, aber Mama traurig. Mama vermisst die Martin. Miro ist auch traurig.“ Ich bin überwältigt von seiner Empathie. Ich weiß nicht was mit unserem
Miro passiert ist, als du gestorben bist, kleiner Martin, aber irgendetwas ist geschehen, etwas das für niemanden von uns begreifbar ist. Oft habe ich das Gefühl, du bist ganz nah bei ihm, immer
an seiner Seite. Wir vermissen dich alle so sehr, kleiner Martin. Dein Lachen, dass den ganzen Raum erfüllt und erwärmt hat, er fehlt, so sehr. Vorige Woche habe ich die große Erinnerungs-Box
ausgepackt und darin waren auch Jozefinas Wunschzettel. Sie hatte nie materielle Wünsche, sie hat sich immer vom Christkind immer nur gewünscht, dass wir als Familie für immer zusammen bleiben.
Ein einziger verdammter Wunsch, nur einen Wunsch hatte meine Prinzessin und dieser Wunsch, dieser Traum ist für immer zerstört. Es ist so unfair. Es ist nicht gerecht, unsere liebe kleine
Jozefina, hat schon so viel hinter sich gehabt, warum, warum konnte ihr nicht dieser eine Wunsch gewährt werden? Ich bin wütend, ich bin so unglaublich wütend und das macht mir Angst.
Miro weiß, dass du nicht mehr zu uns zurückkehren kannst – er möchte in den Himmel zu dir, er möchte dich abholen. Miro der so eine furchtbare Höhenangst hat, klettert auf die höchsten Dinge um
dir näher zu kommen und dann plötzlich war der Moment da, wo er angefangen hat sich einfach von oben fallen zu lassen. Er möchte in den Himmel, er möchte zu dir, egal wie.
Und nein, verdammt nochmal nein, kein Kind, sollte es ertragen müssen seinen Bruder zu verlieren, kein Elternteil sollte es ertragen müssen, sein Kind zu verlieren, denn es ist nicht möglich, es
ist unerträglich.
Ich sitze hier alleine - deine Flamme leuchtet, ich halte deine Haarsträhne in der Hand, ich kämpfe gegen die Übelkeit, den Schmerz, die Wut, aber ich komme gegen all das nicht an Martin. Ich
habe das Gefühl zu versagen, denn ich halte es nicht aus.
Gestern wurde in Deutschland der Körper vom kleinen Mathis gefunden. Nach einer Woche Suche haben sie seinen leblosen Körper im Wasser gefunden. Wieder ein kleines Kind – ein weiterer kleiner
Junge, der für immer fünf Jahre alt sein wird. Wieder ein fünfjähriger Bub mit Autismus, dessen Leben von einer Sekunde auf die andere geendet hat. Wieder dieser sinnlose Schmerz und ich bin
wieder am Anfang. Ich starre in die brennende Flamme und bin wieder da, am 20 Februar.
Du wolltest schon am 19. Februar, den blauen Zahnbürstenkopf haben und ich hatte es ganz vergessen. Ich weiß noch, dass ich dir am Morgen des 20. Februars versprochen habe, danach zu suchen. Kaum
wart ihr im Kindergarten, bin ich deinem Wunsch nachgekommen, im Wissen wie viel Freude dir die blaue Zahnbürste bringen würde. Du durftest diesen blauen Bürstenkopf nie benutzen, mein kleiner
Hase. Es ist nicht fair. Du durftest nie Eislaufen lernen, und dabei hast du dich doch so sehr darauf gefreut, wir hatten es dir doch für die Wintersaison 2023/2024 versprochen. Und es tut so
unendlich weh, dass du all diese Dinge nicht mehr tun kannst, kleiner Martin, du warst so neugierig und so schlau, so wissbegierig, du wolltest alles können, du wolltest noch die Welt entdecken
und dass solltest du auch tun. Es ist so ungerecht und es macht mich so wütend.
Ich weiß nicht wohin mit mir und meinen Gefühlen.
Mein wunderschöner, neugieriger, glücklicher perfekter Bub, du darfst all diese Dinge nicht mehr tun, du darfst nicht mehr an unserer Seite sein und scheinbar „ist niemand dafür verantwortlich“.
Niemand will die Verantwortung für deinen Tod tragen. Du sollst Schuld sein an deinem Tod? Du warst doch erst 5. Fünf Jahre, 5 Monate und 3 Wochen, durfte ich dich nur an meiner Seite
haben.
Und doch bin ich hier. Obwohl sich alles in mir sträubt, gehe ich vorwärts Schritt für Schritt, Tag für Tag. Ihr Kinder wart und werdet immer mein Leben sein. Und da ich hier bin, werde ich mit
deinem Papa und diesen unglaublichen Menschen an unserer Seite, dein Vermächtnis, für dich leben lassen.
Viele Menschen fragen, wie wir das schaffen, diesen Weg zu gehen. Wir wissen es selbst nicht, denn eigentlich gibt es dafür keine Kraftreserven. Aber wir sind hier und haben keine Wahl, denn wir
müssen deinem Tod, einen Sinn geben, denn sonst würden wir es nicht schaffen. Außerdem habe dir mein Wort gegeben mein kleiner Liebling und du weißt, wie Mama immer sagt: „Versprochen ist
versprochen.“
Ich liebe dich kleiner Martin, für immer und ewig. Und auch wenn mir klar ist, das ich auf diesen Tag noch warten muss, doch ich freue mich heute schon auf den Tag, an dem ich dich wieder in
meine Arme ziehen und in deine wunderschönen Augen sehen darf, während ich dir sage, dass ich dich über alles Liebe.
Deine Flamme leuchtet, ich sehe sie an und ich weiß wir haben schon 232 Tage überlebt. Ich schaue in dieses kleine Licht in der Dunkelheit und sehe darin dein wunderschönes Gesicht. Ich liebe
dich Martin, mein kleiner Sonnenschein.
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Susanne Marth (Dienstag, 24 Oktober 2023 12:18)
Ein wunderschönes Vermächtnis und liebevoll verfasst! Eigentlich ist es ein Geschenk, solch ein Kind zu haben und in die Tiefen deren Wahrnehmung einzutauchen! Außerdem ist es eine besondere Liebe, die einem mit solch einem Kind verbindet! Eine unendliche Liebe….