Hier sitze ich. Am Laptop laufen alte Videos, um mich herum liegen Fotoausdrucke am Boden, von den Bildern an den Wänden, lächelt mir strahlend eine Familie entgegen – eine Familie,
die so nicht mehr existiert. Ich nehme ein Foto in die Hand und habe das Gefühl ich sitze in meinem Meer aus Glasscherben und bei jeder Bewegung, schneidet das Glas. Jede Bewegung schmerzt und
jeder Atemzug versucht mich umzubringen. So fühlt sich das Leben heute an – mein Leben.
Ich brauche nicht in den Kalender zu blicken, um zu wissen, dass sich in einem Monat dein Todestag zum zweiten Mal jährt. Ich weiß immer ganz genau, wie viel Zeit ohne dich vergangen ist. Und
doch verstehe ich es nicht. Zeit ist etwas Merkwürdiges geworden. Der Schmerz fühlt sich unendlich an und manchmal fühlt es sich so an, als wüsste ich nicht mehr was glücklich sein bedeutet.
Vielleicht deshalb, weil unser altes, unser glückliches Leben, in so weiter Ferne liegt. Schon viel zu lange, müssen wir alle diesen Schmerz ertragen. Und doch kann ich nicht begreifen, dass
schon so viel Zeit vergangen sein soll. Habe ich dich nicht gestern erst, in meinen Armen gehalten und getröstet? Hast du mir nicht gestern erst ein Spielzeug gegen den Kopf geworfen, weil du so
wütend auf mich warst? Habe ich dich nicht gestern erst gewickelt und den Schlaf gekuschelt? Habe ich dir nicht gestern erst, den allerletzten Abschiedskuss gegeben?
Ich verstehe es nicht. Jeden verdammten Tag quält mich die Frage nach dem Wie und dem Warum. Ich kann Theorien anstellen, ich kann diesen beschissen Weg zum hunderttausendsten Mal abgehen und
doch werde ich niemals wissen, was an diesem 20. Februar wirklich passiert ist. Die Fragen quälen mich und begleiten mich tagein und tagaus. Sogar wenn ich nachts schlafe, ist es mir nicht
vergönnt, dich wenigstens da zu sehen. So wunderschön und lebenslustig wie du warst. Nein selbst in meinen Träumen weiß ich, dass du tot bist, oder aber ich muss dir beim Sterben zusehen und bin
dabei wie gelähmt. Ich versuche zu dir zu laufen, doch egal wie schnell ich laufe, ich komme nicht vom Fleck. Immer und immer wieder, durchlebe ich die gleichen furchtbaren Albträume. Immer
wieder bin ich zu spät. Und ich weiß, dass ich niemals abschließen kann. Ich weiß, dass mich für den Rest meines Lebens, diese Fragen beschäftigen werden. Ich werde niemals wissen, was an diesem
Tag wirklich passiert ist. Ja, ich habe Angst vor der Wahrheit, denn ich weiß, dass sie egal wie sie ausfällt, weh tut und doch treibt mich dieses Unwissen schier in den Wahnsinn. So viele Fragen
sind offen und werden es wohl für immer bleiben. Ich habe Angst daran zu zerbrechen, denn ich weiß, das darf ich nicht. Da sind noch Fini und Miro, mein Ankerpunkt und gleichzeitig sind sie auch
diejenigen die mir die grausame Realität vor Augen führen. Ich sehe die beiden an und sehe wie groß sie schon geworden sind und weiß plötzlich wieder, dass ich nicht erst gestern wieder in meinen
Armen halten durfte. Ich sehe wie groß sie sind und ich weiß, dass wir alle dich schon viel zu lange vermissen.
In einem der Videos höre ich dein wunderschönes Lachen und anhand deines Tonfalls, weiß ich wie sehr du dich freust mich ausgetrickst zu haben. Ich kenne jedes der Videos auswendig. Sie sind
meine einzige Möglichkeit, deine Stimme zu hören. Denn ich habe Angst kleiner Martin. Ich habe Angst, dich zu vergessen. Alles in mir tut so unbeschreiblich weh, seit du nicht mehr da bist. Ich
bin es so leid mich jeden Tag dazu aufzuraffen aufzustehen und einen neuen Tag ohne dich begehen zu müssen. Ich halte das nicht aus. Du fehlst mir so unendlich mein kleiner Liebling. Die Tränen
laufen schon seit Stunden. Denn der Vormittag heute ist nur für dich freigehalten. Viel zu oft muss ich meine Trauer und den Schmerz verbergen. Aber sie sind meine permanenten Begleiter. Sie
gehören zu mir.
Ich blicke auf die Fotos und sehe eine glückliche Familie. Ich sehe die Müdigkeit in den Augen der Eltern – aber ich sehe vor allem eines – ich sehe unendliche Liebe.
Wir waren glücklich. Auch wenn unser Leben ganz anders war, als wir es uns vorgestellt hatten – so war es doch für uns perfekt. Unser chaotisches, lautes und für viele auch merkwürdiges
Familienleben, wäre sicher nicht jedermanns Traum. Doch für uns war es das Schönste, dass wir uns nur wünschen konnten. Nein es war nicht leicht. Aber wir sind gerade durch alle Schwierigkeiten
zusammengewachsen und haben gelernt, dass nichts im Leben selbstverständlich ist und genau das hat uns gezeigt, wie glücklich wir eigentlich sind.
Heute sind wir nur zu viert und trotzdem bist du immer irgendwie bei uns. Auch wenn wir alle zu kämpfen haben, versuchen wir doch zumindest dir zu ehren, alles zu geben, um eines Tages wieder
glücklich zu sein. Denn du kleiner Martin hast es geliebt zu lachen.
Du hast das Leben geliebt.
Ich blicke in die Augen deiner Geschwister und obwohl da so viel Trauer ist, ist da auch so viel Stärke – Stärke, für die sie eigentlich viel zu jung sind. Wir alle sind zu Kämpfern geworden.
Jeden Tag führen wir alle einen Überlebenskampf und einen Kampf um das Leben nicht nur zu überleben, sondern eines Tages wieder wirklich zu erleben.
Wir lieben dich Hase und wir tragen dich und dein Andenken weiter auch wenn der Weg schwer ist. Denn ich habe dir ein Versprechen gegeben – ein Versprechen, dem sich so viele Menschen
angeschlossen haben und dafür bin ich, aber auch dein Papa und deine Geschwister unendlich dankbar. Es ist schwer stark zu sein, doch genau das sind wir geworden. Immer wieder müssen wir unsere
Emotionen unter Kontrolle halten, einfach um diesen Weg zu gehen und auch damit ich mein Versprechen einhalten kann. Doch damit wir das schaffen, brauchen wir alle manchmal auch einfach eine ganz
bewusste Auszeit – eine Auszeit um ganz bewusst zu trauern, eine Auszeit, die nur für den Schmerz, die Trauer und die Wut freigehalten wird. Nur dadurch schaffen wir es weiter zu kämpfen.
Wir lieben dich kleiner Martin im Regenbogen.
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