Ich stehe am Abgrund und blicke hinunter. Die eisige Kälte und den schneidenden Wind, nehme ich nur noch am Rande wahr. War dieser Abgrund schon einmal so nah, war er schon einmal so tief. Ich weiß es nicht.
Ich starre in den Abgrund und obwohl ich hier schon so lange stehe, wird der Drang den entscheidenden Schritt zu gehen nicht kleiner. Nein, ganz im Gegenteil, es wird immer schwieriger, der Melodie die aus den Untiefen erklingt zu widerstehen. Ich habe das Gefühl deine bezauberndes Summen in dieser Melodie zu hören.
Wie wäre es wohl sich einfach fallen zu lassen? Würde der Schmerz endlich enden?
Seit 429 Tagen stehe ich hier, hier an diesem Abgrund. In all dieser Zeit habe ich gekämpft, ich habe versucht die Balance zu finden, zwischen der Fürsorge und Liebe die deine Geschwister brauchen und verdienen - und unserem Weg, deinen Namen in Ehren zu halten und in deinem Namen zu kämpfen, mein wunderschöner Martin. Ich habe meinen Schlaf noch weiter runtergeschraubt, da der Tag einfach zu wenig Stunden hat und mich ohnehin nur Albträume verfolgen. Denn wenn ich meine Augen schließe, muss ich dir jede Nacht aufs Neue beim Sterben zusehen - hilflos und ohne die Möglichkeit mich zu bewegen und dir zu helfen, dich zu retten. Jede einzelne Nacht gehe ich durch meine persönliche Hölle. Daher fiel mir diese Entscheidung nicht schwer.
Gestern kam dann für einen kurzen Moment die Erleichterung, dass nicht alles umsonst war, dass sich endlich etwas bewegt. Dass all die Energie, die Zeit, die Arbeit und die Kraft, die wir in dein Vermächtnis gesteckt haben, nicht umsonst war. Die Erleichterung und die kurze Freude hielten leider nicht an. Denn direkt danach kam der große Zusammenbruch. Heute glaube ich, dass nichts was wir tun, den Schmerz auch nur ein Stück erträglicher machen kann.
Ich blicke in den Abgrund und es wird kälter und dünkler.
Wie viele Nächte noch, muss ich unseren Miro, nachts, stundenlang, tröstend durch das Haus tragen, während er mich weinend anbettelt, auf den Friedhof zu fahren und dich auszugraben oder aber zu dir in den Regenbogen zu dürfen.
Wie viele Tränen der Wut, Trauer und der Hilflosigkeit muss ich unserer Jozefina noch trocknen, während ich selbst nicht weiß wohin mit meiner Wut, die jedes Mal wenn ich meine geliebten Kinder so sehe, weiter wächst.
Wie lange noch, muss ich weinend, mit deiner Haarsträhne in meinen Händen sitzen, die nicht einmal mehr nach dir riecht, bis ich dich endlich wieder in meine Arme schließen und dir durch deine Haare strubbeln darf? Wer soll diesen unmenschlichen Schmerz so lange ertragen? Wer soll all diese Gefühle aushalten, wer soll diese grenzenlose Wut kontrollieren können. Wie soll man mit dieser Ungerechtigkeit leben können.
Alles was ich wollte, war ein schönes Leben für euch, meine drei wunderschönen Lieblinge.
Ich blicke in den Abgrund und ich muss mich setzen, denn ich weiß, wenn ich stehen bleibe, kann ich dem Drang mich fallen zu lassen, nicht mehr widerstehen. Hier sitze ich und habe das Gefühl zu ersticken. Ich bekomme kaum noch Luft, das Atmen wird mit jedem Moment der vergeht schwerer und doch weiß ich, dass ich es irgendwie schaffen muss weiter zu atmen. Denn wenn ich schon nicht für mich selbst atmen kann, dann wenigstens für meine Kinder. Ich weiß kleiner Martin, dass ich mich von diesem Abgrund entfernen muss und doch komme ich nicht einen Millimeter vom Fleck. Im Außen haben wir gelernt zu funktionieren, wir lachen, wir spaßen, wir sind gesellschaftsfähig. Wenn man nicht um unsere Geschichte weiß, würde man nie auch nur vermuten, dass wir das Kostbarste verloren haben, was wir jemals hatten - unsere Masken sitzen perfekt. Das müssen sie auch, das haben wir gelernt. Den wenigsten Menschen ist Einblick hinter die Fassade vorbehalten. Anders wäre es auch für uns nicht möglich zu überleben.
Ich blicke in den Abgrund und lausche dieser wunderschönen Melodie. Ich Frage mich, ob ich dich eines Tages wirklich wieder an meiner Seite habe, oder ob da nur mehr Stille und Dunkelheit sein wird. Was ist, wenn danach Nichts mehr ist? Beim Gedanken daran wird mir wieder schlecht.
Ich lege mich hin und ich lass dabei meinen Arm über dem Abgrund baumeln und es fühlt sich an als würde etwas versuchen mich in den Abgrund hinunterzuziehen. Ich liege am Abgrund und blicke in den Himmel. Ich sehe einen Regenbogen, aber wo kommt er her? Entstammt er dem Meer der Tränen, die wir vergossen haben? Ich weiß es nicht. Ich blicke in den Himmel und höre dein Lachen und plötzlich ist da ein Gefühl von Wärme. Ich denke an all die merkwürdigen Dinge die im vergangen Jahr geschehen sind und ich weiß - Doch, da muss noch etwas sein, da muss einfach mehr sein. Und während ich da liege spüre ich eine warme Brise und es fühlt sich an, als würdest du mir über die Wange streichen und da höre ich deine wunderschöne, bezaubernde Stimme: "Noch nicht, Mama."
Langsam raffe ich mich wieder auf. Hier stehe ich und blicke wieder in den Abgrund und ich weiß, Selbst wenn ich mich niemals von diesem Abgrund weg bewegen kann, so werde ich zumindest hier stehen bleiben - nicht wie ein Stein, denn der könnte den Abgrund hinunterrollen - Nein, wie ein Fels, denn ich weiß, ich darf und ich will nicht egoistisch sein.
Hier stehe ich und blicke in den Abgrund, ich sehe hoch und sehe deinen Papa. Zentimeter um Zentimeter bewegen wir uns aufeinander zu, bis unsere Fingerspitzen sich berühren.
Und so stehen wir Hand in Hand an diesem Abgrund und schaffen es gemeinsam, dem schneidenden Wind zu trotzen und der wunderschönen Melodie zu widerstehen.
Wir lieben dich kleiner Martin und ich vertraue darauf, dass ich dich eines Tages wieder an meiner Seite habe, ganz ohne Abgrund und ohne Trauer. Ich muss daran glauben, denn es ist alles was mir in dieser Hinsicht bleibt. Ich liebe dich mein kleiner Prinz, mein wunderschöner Martin im Regenbogen...
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Stefan Szorger (Mittwoch, 24 April 2024 16:39)
Wao ein so bewegender Text. Das berührt mich immer wieder.
Aber bitte liebe Monika, du sollstnie vergessen aber du musst auch nach vorne blicken. Ich weiß, es ist leichter getan als gesagt und ich kann mich nicht annähernd in Deine Lage versetzen. Aber bitte schau auch auf und Deine liebsten.
Glg Stefan
Sonja Lux (Donnerstag, 25 April 2024 23:03)
Ich bin immer noch da. Ich bin im Zimmer nebenan. Was ich für euch gewesen bin, bleibe ich auch. Nennt mich weiterhin so, wie ihr mich immer genannt habt. Redet mit mir, wie ihr immer mit mir geredet habt. Betet, lacht und denkt an mich. Das Leben geht weiter, das Band zwischen uns ist nicht zerschnitten. Warum sollte ich aus euren Gedanken verschwinden?
Ich bewundere ihre Stärke auch wenn sie denken , dass sie schwach sind. Gewiss, dass sind sie nicht !