Was bedeutet Autismus für Familien? Teil 6


Ich rief auf der BH an und bekam einen Termin mit der zuständigen Pflege- und Sozialberaterin. Sie kam zu uns nach Hause, war sehr verständnisvoll, vor allem auch gegenüber den Kindern. Sie begutachtete die Gesamtsituation und ich bekam einen „Berg an Formularen“ die ich auszufüllen und zu unterschreiben hatte. Gesagt getan – und etwa einen Monat später bekam ich den Anruf das die Anstellung bewilligt wurde. Ich freute mich irrsinnig, immerhin fiel jetzt der Druck weg, als arbeitsloser Sozialschmarotzer gesehen zu werden und außerdem war es für uns und unseren Kredit wichtig, dass die Bank nun auch ihre Sicherheit hatte mit meiner Anstellung. 

Bei zwei mal Pflegestufe 3, bedeutete dies für mich, dass ich pro Kind auf 20 Stunden, also insgesamt 40 Stunden angestellt wurde. Es bedeutete aber auch für mich, dass das Pflegegeld beider Kinder zu 90% abgezogen wurde. Pro Monat hatte ich also tatsächlich weniger Geld zur Verfügung, als mit der Notstandshilfe, die ich davor bezogen hatte. Hier muss ich wieder von Glück reden, dass Miro und Martin die Therapie zumindest ein Jahr über den PSD bekommen würden.

Was tat sich bei uns und in unserem Familienleben? 

Wir standen vor der großen Herausforderung, was wir mit unserer Jozefina machen sollten. Kognitiv war sie definitiv bereit für die Schule, aber emotional? Da war noch immer diese große Sorge um ihre Brüder, diese extreme Trennungsangst. Im Hinblick auf die Schule wollte keine Freude aufkommen, ganz im Gegenteil, von Tag zu Tag wuchs die Angst und sie zog sich immer weiter in ihr Schneckenhaus zurück. Nach Rücksprache mit unserer sehr verständnis- und liebevollen VS-Direktorin, sowie der Kinderpsychologin und einem Kinderarzt, reichten wir in der Bildungsdirektion den „Antrag auf Aussetzen der Schulpflicht“ ein – da wir uns alle sicher waren, dass sie innerhalb dieses einen Jahres, mithilfe ihrer Psychologin und im gewohnten Umfeld, sehr gute Fortschritte dahingehend machen würde. Also hieß es auch da wieder zu warten. Mittlerweile waren wir dieses furchtbare und nervenaufreibende Warten ja gewöhnt. 

Unsere Jungs Miro und Martin bemühten sich uns an ihrer Welt teilhaben zu lassen. Sie interessierten sich immer mehr für das Spiel miteinander. Hatte es davor fast nur Laufspiele gegeben, tauchten wir langsam in das Regelverständnis ein. Mit Martin waren sogar schon einfache Brettspiele möglich, zwar nur eine Runde pro Spiel, aber ich konnte mein Glück nicht fassen. Wir schafften es sogar alle zusammen zu musizieren und Turnübungen vorzuzeigen und der Rest von uns musste sie nachmachen. Ja es waren nur kurze Sequenzen möglich, aber meine Begeisterung war nicht zu bremsen. Vor allem als mein kleiner Martin, das erste Mal „Ich liebe dich“ sagte und dass nicht nur weil er es auswendig gelernt hatte, sondern weil er tatsächlich verstanden hatte, was diese Worte bedeuteten. Da konnte ich meine Tränen nicht mehr halten. Er war überhaupt sehr kreativ, wie er sich ausdrücken und verhalten sollte, wenn er sprachlich doch so eingeschränkt war und so machte er sehr viel „Unsinn“ um uns dazu zu bewegen mit ihm Fangen zu spielen, denn dies war sein absolutes Lieblingsspiel. Nach Außen hin, hat er für viele einfach nur provokant und schlimm gewirkt, wenn man sich allerdings die Mühe machte genau hinzusehen, erkannte man, dass dies einfach seine Form des Ausdrucks war. Viele Dinge in ihrer Form der Kommunikation mussten wir erst erlernen und oft genug lagen wir als Eltern auch einfach falsch, in der Interpretation, was wiederum zu Frust auf allen Seite führte. Wir großen konnten einfacher damit umgehen, aber vor allem unser kleiner Martin tat sich sehr schwer mit seiner Frustrationstoleranz – und so flogen Gegenstände durchs Haus, oder aber er haute, hierbei richtete sich seine Aggression jedoch immer nur gegen seine Bezugspersonen. So oft hörten wir von Ärzten, wir sollten doch endlich mal über Risperidon nachdenken. Das kam mir aber gar nicht in den Sinn. Denn sein Frust hatte ja eine klare Ursache, hier war es uns, ihn zu verstehen und die richtige Form der gemeinsamen Kommunikation zu finden. Und ich muss sagen, es war die richtige Entscheidung. Es sollte noch eine Weile dauern, aber wir näherten uns dem Ziel und wurden von Tag zu Tag ein eingespielteres Team (natürlich gab es auch hier immer wieder Rückschläge, aber die gehörten ganz einfach dazu). Wir begleiteten ihn sprachlich bei dem was er tat, bei dem was wir taten und wir arbeiteten auch viel mit Bildkarten. Hierfür hatte ich so ziemlich jede erdenkliche Situation im Alltag mit der Kamera eingefangen, die Fotos gedruckt, laminiert und mit Magnetstreifen versehen. Und ich muss sagen, zumindest bei Martin zeigte es sprachlich ganz tolle Wirkung und Miro konnte sich zumindestens über die Bildkarten und seine Gesten gut verständigen, angelernte Dialoge konnte er auch führen – allerdings durften diese nicht abweichen. Denn das Sprachverständnis war hier zu stark eingeschränkt. Er verstand das gesprochene Wort, nur in einem bestimmten Kontext. Wenn ich zum Beispiel beim Wickeln sagte, dass ich Feuchttücher bräuchte, konnte er sie mir bringen. Wenn ich jedoch außerhalb der Wickelsituation nach Feuchttüchern fragte, verstand er nicht was ich wollte. Trotzdem war ich auch über seine Fortschritte sehr glücklich. Denn das ist etwas, das meine Kinder mich gelehrt haben. Es sind die kleinsten Dinge, die einen am glücklichsten machen können. Jeder winzig kleine Fortschritt war für mich eine Sensation, auch wenn die Außenwelt dies nicht nachvollziehen konnte.

Zwischenzeitlich hatte ich den Termin in der Bildungsdirektion, wo ich vorsprechen musste und erklären musste, warum genau unsere Tochter dieses Schuljahr aussetzen sollte. Die Dame war sehr verständnisvoll, erklärte mir jedoch, dass ich mir keine großen Hoffnungen machen sollte, trotz der PTBS von Jozefina und der laufenden Therapie, könnte sie sich leider nur schwer vorstellen, dass dem Antrag stattgegeben wird. Also wieder warten, diesmal weitaus nervöser. 

Gleichzeitig erfuhren wir, dass Miro und Martin mit September andere Integrationspädagoginnen bekommen sollten, da unsere damaligen nur Karenzvertretungen waren. Wieder eine große Sorge mehr. Trotz dessen, dass sich alle Therapeutinnen und wir Eltern dagegen aussprachen und auch Gespräche mit der Kita-Leitung führten, mussten wir uns leider auf einen Wechsel einstellen. Wir waren verzweifelt, vor allem in Hinblick auf Martin, der mit Veränderungen extreme Schwierigkeiten hatte. Zumindest sollte er seine ehemalige Gruppenleiterin als I-Pädagogin bekommen, also wenigstens niemanden komplett Fremden. 

Einen Tag bevor wir in die tatsächlichen Sommerferien starten sollten, kam die Antwort der Bildungsdirektion an. Unser Antrag für Jozefina wurde bewilligt. Wenigstens eine riesige Sorge und Last, welche uns von den Schultern genommen wurde.

Mit der großen Sorge um den Start unserer Zwillinge in das neue Kindergartenjahr, begannen unsere Sommerferien.

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