Martins Vermächtnis

Martins Vermächtnis - Was soll das eigentlich sein?


Ich bin Mama von drei unglaublichen Kindern, Jozefina, Miroslav (oder Miro, wie ihn die meisten nennen) und Martin. Unsere Zwillingsjungs haben Autismus und unsere Jozefina ist die fürsorglichste Schwester die ich kenne, ein Mädchen, dass wir Eltern immer daran erinnern müssen, dass sie selbst ein Kind ist und auch sein darf. Jeder der drei ist auf seine Weise einzigartig. 

Martin ist mein Mini-me. Ungeduldig, zornig, wenn er nicht verstanden wird und doch ein riesen Herz. Sein wunderbares, Wärme schenkendes Herz hat am 20.2.2023 aufgehört zu schlagen. Ohne Vorwarnung wurde unser Martin aus dem Leben gerissen. Ertrunken in einem Biotop, bei einem Kindergarten-Ausflug. Als ich den Anruf bekam und anfing nach meinem Baby zu suchen, war er mit hoher Wahrscheinlichkeit schon tot. Als mein Kind die größte Angst seines Lebens durchstehen musste, war ich nicht an seiner Seite. Das erste und einzige Mal, dass er ohne mich, alleine Kämpfen musste. Dieser Gedanke zerreißt mich und schnürt mir die Luft ab. Mein Kind, tot, neben dem Wasser mit offenen, leeren Augen, die Brust die sich nicht mehr Hebt und senkt, dieses Bild hat sich für immer in meine Seele gegraben und hat mein Leben wie es vorher war, für immer beendet. 

Ich bin mir sicher, dass ich ihn eines Tages wieder in eine liebevolle Umarmung ziehen darf und dass er trotz allem in irgendeiner Form an unserer Seite ist. Und doch ist der Schmerz unvergleichbar, unerträglich und so schneidend, dass ich oft nicht weiß, wie ich auch nur einen einzigen Schritt gehen soll. 
Doch ich habe keine Wahl, ich habe hier bei mir noch zwei unglaubliche Kinder, die mich jetzt mehr denn je brauchen, zwei Kinder die selbst im Schlaf um ihren geliebten Bruder weinen. Liebe Mama, du hast keine Zeit in ein Loch zu fallen oder dich zu verkriechen. Egal wie sehr der Schmerz um dein geliebtes Kind dich verbrennt, du gehst weiter, Schritt für Schritt, egal wie sehr das Herz dabei blutet.

Diejenigen von euch die dem Begräbnis beigewohnt haben, erinnern  sich sicher auch, daran was ich meinem Martin während der Trauerrede versprochen habe. Ich habe ihm Versprochen unseren Kampf fortzusetzen, solange ich atme.

Unser Kampf für Akzeptanz und Verständnis von Autismus hat mit meinen Kindern begonnen. Gerade Martin ist in der Gesellschaft stark aufgefallen. Und sein großer Gerechtigkeitssinn und der Wunsch nach Teilhabe in der Gesellschaft war unvergleichbar. 

Ich werde darum kämpfen, dass andere Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene im Spektrum diese Möglichkeit bekommen. 
Ich werde darum kämpfen, dass sie ein Leben führen dürfen, in dem sie als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft gesehen werden. 
Ich werde dafür kämpfen, dass sie die notwendigen Therapien bekommen, dafür dass die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen werden.

Fast zeitgleich mit unserem kleinen Prinzen Martin, der beim Kiga-Ausflug weggelaufen und ertrunken ist, ist in Hamburg ein 10-jähriger Autist aus der Sonderschule weggelaufen und ebenfalls ertrunken. 
Im Austausch mit anderen Eltern deren Kinder ASS haben, wurde mir bewusst wie viele ihrer Kinder schon aus Kiga, Schule, etc weggelaufen sind. Ein Punkt der den wenigsten bewusst ist. Es kann und darf nicht sein, dass so etwas immer und immer wieder passiert. Denn jeder einzelne dieser Fälle hätte so enden können wie unserer. Sei es im Wasser, auf der Straße oder bei einem Sturz.
Niemand soll diesen unerträglichen Schmerz mehr fühlen müssen. 

In jedem Bereich unseres Systems sind Autisten unterversorgt und ich Frage mich, wie es sein kann, dass für so viele Menschen nichts getan wird. 
Dabei wäre es so einfach. 
Ich habe mich diesem Weg verschrieben, es meinem Sohn versprochen und diejenigen unter euch die mich kennen, wissen auch, dass ich niemals aufhören werde zu kämpfen, niemals aufgeben werde, schon gar nicht, wenn es um meine Kinder geht. Denn meine Kinder sind mein Leben.

Ich bin Mama von drei Kindern und werde es auch für immer sein, auch wenn mein Martin auf der anderen Seite des Regenbogens ist, ist er doch immer in meinem Herzen und meinen Gedanken. 

Mein kleiner Prinz ich liebe dich bis ans Ende meiner Tage und weit darüber hinaus. Denn diese Liebe endet niemals. Und ich verspreche dir, dein Vermächtnis aufzubauen, denn dein Tod wird das Sinnbild sein, für etwas das nie wieder geschehen darf und soll der Anfang sein, für eine bessere Welt. 
Ich liebe dich kleiner Hase.

Unser Leben mit Autismus

Was ist eigentlich Autismus? 


Uns erreichen in letzter Zeit immer wieder Fragen zum Thema Autismus, vor allem aber was das eigentlich wirklich genau ist. Bis hin zu der Frage ob unser kleiner Martin an seinem Autismus verstorben ist. 


Deshalb habe ich beschlossen, eine sehr komprimierte aber hoffentlich für alle, verständliche Erklärung niederzuschreiben.


Eine Autismusspektrum-Störung, kurz ASS genannt, gilt als tiefgreifende Entwicklungsstörung. Dabei können mehrere Lebensbereiche betroffen sein. Etwa die soziale Interaktion, die Motorik, das Sprachverständnis, oder intellektuelle Fähigkeiten, etc.

Viele Menschen sehen, wenn sie an einen Autisten denken, einen schrulligen Eigenbrötler, der mit niemandem klar kommt, aber in irgendeinem Gebiet ein Genie ist (meistens gehen die Leute von IT, Mathematik oder Physik aus).


Tatsächlich sind diese Spezialgebiet-Genies, Savants genannt, gar nicht so häufig. Wäre dies nämlich tatsächlich so, könnte man wohl mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit sagen, dass die meisten Probleme unserer Welt bereits gelöst wären. 

Denn rund 2% der Bevölkerung ist von einer ASS betroffen. (Also 1 von 50, das ist nicht wenig.) 

Man möge sich ausrechnen, wie viele geniale autistische Wissenschaftler, diesem Denken nach auf unserem Planeten wandeln. 


Tatsache ist, diese Savants sind gar nicht so häufig. 

Was bedeutet dieses Bild aber nun für Familien?

Abgesehen davon, dass unsere autistischen Kinder ohnehin schon sehr genau beäugt und für ihr Verhalten kritisiert werden, steigt damit auch der Druck. "Denn wenn sich das Kind schon so merkwürdig verhält, dann soll es doch bitte auch ein Genie sein, am besten schon mit 6 Jahren." 

Nun ist es aber so, dass diese Vorstellung absolut nicht der Realität entspricht und manchmal habe ich das Gefühl, dass Eltern ihre Kinder im Spektrum, dann sogar ganz unbewusst verstecken, aus Schutz dem Kind gegenüber und aus Selbstschutz. Leider führt dies zu noch mehr Unwissen innerhalb der Gesellschaft.


Aber was nun bedeutet Autismus? 

Am einfachsten lässt es sich erklären, mit einer Datenverarbeitungsstörung. Das Hirn eines Autisten nimmt viel mehr Daten auf einmal auf als unseres, wenn ich es jetzt richtig im Kopf habe, mindestens zweieinhalb Mal soviele Daten auf einmal. Allerdings fehlen zur Verarbeitung die notwendigen Filter. 

Ich unterhalte mich mit jemandem, nebenbei Zwitschern die Vögel, ein Auto fährt vorbei, irgendwo in weiter Ferne hört man das Piepsen eines LKWs. Ich folge dem Gespräch und nehme die anderen Geräusche, wenn dann nur am Rande wahr.


Mein Sohn hingegen hört alle diese Dinge und noch viel mehr auf einmal, allerdings filtert hier das Gehirn nicht richtig, was davon relavant ist. Somit strömen all diese Geräusche auf einmal auf ihn ein. So verhält es sich auch mit den anderen Sinnesorganen. Allein die Vorstellung daran, fällt mir persönlich schwer, macht mich nervös und laugt aus.

Man versteh also, dass Menschen im Spektrum eine ganz andere Wahrnehmung haben.


Im Zuge dieser Überreizung kann es dann leicht zu einem Meltdown kommen. (Ein Meltdown ist meist das was die Gesellschaft als nicht erzogenes, furchtbares Benehmen wahrnimmt.) Vor allem dann, wenn noch nicht die richtigen Strategien zur Regulierung entwickelt sind. 

Man kann es vielleicht veranschaulichen, mit einem Topf Wasser am Herd: 

Ich fülle Wasser in einen Topf, gebe einen Deckel drauf und  schalte den Herd auf die höchste Stufe. 

Das Wasser wird beginnen zu kochen, irgendwann pfeift der aufsteigende Dampf zwischen Topf und Deckel durch. Wenn ich jetzt nicht weiß, dass ich den Deckel abnehmen muss, und den Herd zurückdrehen, dann wird der Inhalt überlaufen. Auch wenn ich es weiß und zu langsam reagiere, ist das Ergebnis das Gleiche.


Und hier muss man ganz klar machen:

Jeder Autist ist anders, ebenso wie die  Regulations-Strategien die der oder die Betroffenene braucht. 

Autismus ist nicht heilbar, es ist ja auch keine Krankheit.

Wenn eine ASS aber früh erkannt wird, Kann man eigentlich sehr gut fördern und unterstützen und natürlich auch die richtigen Regulations-Strategien erlernen. 

Es ist nicht leicht, aber definitiv nicht unmöglich. Dafür braucht es aber vor allem: Verständnis,  Akzeptanz und Integration und natürlich ganz viel Liebe und Geduld.

Von der Familie, vom Umfeld, von Kindergärten und Schulen und der Gesellschaft. 

Dies wird allerdings nur mit viel Aufklärungsarbeit möglich sein. 

Denn wie wir sehen, wissen wir viel zu wenig und glauben doch alles zu wissen.


Was bedeutet Autismus für unsere Familie?-Teil18

Was bedeutet Autismus für Familien? – Teil18

 

 

Unser kleiner Martin fand seine Liebe zu Burgern. Nachdem er sich ansonsten fast ausschließlich von Fleisch als Hauptgericht - mit Fleisch als Beilage ernährte, muss ich sagen, dass wir über diese Entwicklung mehr als nur froh waren. So aß er wenigstens auch Salat im Burger und Gurken und Tomaten – für uns ein kleiner Grund zum Feiern. Mir ist vollkommen klar, dass Burger nicht unbedingt im oberen Bereich der Ernährungspyramide zu finden sind – aber wer er kann Kind zu Hause hat, welches sich komplett einseitig ernährt, kann unsere Freude sicher nachempfinden. Das Problem war, dass er zu jeder Tages- und Nachtzeit nach Burgern verlangte und das am liebsten im Stundentakt (durch das fehlende Sättigungsgefühl, wollten unsere Buben, das was ihnen schmeckte, permanent essen). Das dies nicht möglich war, war klar, allerdings führte es oft zu großen Wutanfällen. Auch Martin, der seine Gute-Nacht-Flasche nach wie vor heiß liebte, war nicht davor gefeit. Denn am liebsten hätte er im Bett noch einen Burger gegessen, um diesen dann von seiner Milchflasche als Nachspeise begleiten zu lassen.
An diesem Abend schauten wir alle zusammen noch eine Folge Tut-Tut-Flitzer, bevor es anschließend ans Fertig machen und ins Bett gehen sollte. Nebenbei sagten wir den Kindern immer, wie lange sie noch Zeit hätten und verwiesen auf den visuellen Time-Timer, der ihnen die verbleibende Zeit anzeigte. Als ich den Kindern mitteilte, dass nur mehr zwei Minuten übrig waren, sprang unser kleiner Martin plötzlich auf und rannte zur Brotlade. Zurück kam er mit einem Teller und den Burgerbrötchen – und natürlich mir der Aufforderung, man möge daraus einen richtigen Burger machen. Der große Martin erklärte ihm, dass es vor nicht einmal einer halben Stunde Abendessen gegeben hatte und Burger nicht mehr am Menüplan stand, sondern nur noch die Gute-Nacht-Flasche. Unser kleiner Martin sah das anders und bestand auf seinen Burger. Während die Beiden ihre Diskussion fortführten, holte ich mein Handy um die Szene aufzunehmen – aus einem ganz simplen Grund. Unser Martin maskierte außerhalb des häuslichen Umfelds unglaublich gut. Das heißt im Kindergarten oder bei Therapien machte er alles ganz toll mit, zeigte dort auch keine Überforderung oder Zorn – nur um dann zu Hause komplett zu explodieren – was wiederum, für mich gefühlt, nicht ernst genommen und  geglaubt wurde, vor allem im Hinblick auf seine Zerrissenheit in der Situation.
Auch wenn ich den Ablauf der Meinungsverschiedenheit zwischen Martin und seinem Papa schon sehr genau kannte und wusste, dass das ganze nur ein kleiner Disput werden sollte, filmte ich es also mit. Nach einem kurzen „Nein“- „Doch“ haute Martin seinen Papa kurz mit dem Teller. Was ihm eigentlich auch im gleichen Moment wieder leid tat. Vor allem da der große Martin ein Weinen imitierte (wenn auch nicht besonders gut). Da er nicht wusste, wie er jetzt richtig reagieren sollte, versuchte er sich wieder auf den Fernseher zu konzentrieren, nur um beim Abschalten, dann wieder um einen Burger zu betteln. Nach einer langen Erklärung und dem Versprechen meinerseits, dass Papa ihm am nächsten Tag Burger macht, ließ sich unser kleiner Martin, dann doch noch dazu erweichen, von Burger zum nochmaligen Abendessen, abzusehen.
Als dann endlich Ruhe eingekehrt war und die Kinder aneinander gekuschelt schliefen, besprachen mein Mann und ich noch den Tagesablauf, für den nächsten Tag, wenn ich nicht zu Hause sein würde. Da mein Mann arbeiten und ich fast immer mit den Kids zu Hause war, war es wichtig diese Dinge nochmals durchzugehen. Ich musste meinem Mann genau erklären, was wann, ihm Tagesablauf, an die Reihe kam und ihn daran erinnern, nicht davon abzuweichen. Das war an Tagen, die aus unserer Struktur fielen, ganz besonders wichtig, vor allem dann, wenn ich ausfiel. Die Kinder waren am nächsten Tag zum Glück recht gut gelaunt und bevor ich losfuhr um mein Tattoo fertig machen zu lassen, spielten wir zusammen noch Lego – natürlich nur Lego Duplo, da unser Miro, dass normale Lego nach wie vor in den Mund nahm. Während Jozefina ihren Bauernhof baute, machten sich die Jungs daran ein Windrad zu bauen. Und auch wenn es währenddessen immer mal wieder zu einem kurzen Handgemenge kam, war ich doch begeistert und glücklich darüber, dass es mittlerweile möglich war, dass sie gemeinsam an etwas arbeiteten.
Ich fuhr also guten Gewissens zum Tätowierer. Während ich dort lag und dem Summen der Tätowiermaschine lauschte, dachte ich darüber nach, wie unglaublich viel sich bei unseren Burschen getan hatte, vor allem bei Martin. All diese Angst-machenden Prognosen zu Beginn, all die Schwierigkeiten, durch die wir gewatet sind und doch war da so viel positive Veränderung. Klar, unser Tagesablauf und unser ganzes Leben unterschied sich von den meisten Familien, die wir kannten – dennoch waren wir glücklich. Und dann kam es plötzlich wieder – dieser leise Anflug von Traurigkeit. Wir hatten uns immer vier Kinder gewünscht und doch hatten wir uns schweren Herzens und nach vielen langen Gesprächen, vor einem Monat endgültig dagegen entschieden und Martin ließ eine Vasektomie durchführen. Wir wussten, dass ein weiteres Kind gegenüber jedem einzelnen Familienmitglied unfair wäre, da es so schon schwer war jedem gerecht zu werden und vor allem auch, da ich wusste, dass, so sehr ich meine Kinder auch liebte, würde ich kein weiteres Kind mehr schaffen – nicht psychisch und nicht physisch, denn ich war jetzt schon permanent über meiner Belastungsgrenze. Und auch wenn ich wusste, dass dies die einzige richtige Entscheidung war, so blieb doch immer ein kleiner Restschmerz, der immer dann an die Oberfläche kam, wenn gerade Ruhe in meinem Kopf einkehrte. Zum Glück, unterbrach der Schmerz auf der Haut diesen Gedankengang.
Schließlich verkündete mir mein Tätowierer, dass er fertig war. Ich schaute mir das fertige Kunstwerk an – auf das ich fast einen Monat hatte warten müssen, bis es komplett war – und wer mich kennt weiß, dass Geduld absolut nicht meine Stärke ist. Für mich – war es perfekt geworden. Meine drei Zwerge gemeinsam – Seite an Seite, eine Brücke über einem reißenden Fluss, die uns zeigen soll, dass man überall einen Weg findet und im Hintergrund der bunte Farbenschleier – in den Farben des Regenbogens – in den Farben des Spektrums.
Als ich nach Hause kam, wollten der kleine Martin und Jozefina unbedingt das fertige Tattoo sehen. Miro kam auch dazu als er sah, dass mein Bein plötzlich bunt war. Während wir am Boden saßen, strich Martin mit seinen kleinen Fingern sanft über das Bild. Er freute sich, als er sich selbst und auch Jozefina und Miro darauf fand. Also fing er an, mit den Fingern auf die Kinder am Tattoo zu tippen und dabei die Namen zu sagen. Schließlich zeigte er auf den großen Baum und sagte: „Mama“. Ich erklärte ihm, dass dies ein Baum ist und nicht ich. Er aber blieb dabei: „Das ist Mama, Mama trägt uns immer. Mama ist stark.“ Und plötzlich hatte ich einen riesigen Kloß im Hals und konnte die Tränen kaum noch halten. Auch wenn mein Martin in letzter Zeit anfing auf die Emotionen in seinem Umfeld zu achten und darauf zu reagieren, hätte ich mit so einem Gedankenging niemals gerechnet und das berührte mich auf ganz vielen Ebenen. Während ich meinen kleinen Mann in den Arm nahm und kuschelte, dachte er sich wohl „genug der Rührseligkeit“, schrie auf, boxte auf meinen Oberschenkel und verlangte nach einem Burger….

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Was bedeutet Autismus für unsere Familie?-Teil18

Was bedeutet Autismus für Familien? – Teil18

 

 

Unser kleiner Martin fand seine Liebe zu Burgern. Nachdem er sich ansonsten fast ausschließlich von Fleisch als Hauptgericht - mit Fleisch als Beilage ernährte, muss ich sagen, dass wir über diese Entwicklung mehr als nur froh waren. So aß er wenigstens auch Salat im Burger und Gurken und Tomaten – für uns ein kleiner Grund zum Feiern. Mir ist vollkommen klar, dass Burger nicht unbedingt im oberen Bereich der Ernährungspyramide zu finden sind – aber wer er kann Kind zu Hause hat, welches sich komplett einseitig ernährt, kann unsere Freude sicher nachempfinden. Das Problem war, dass er zu jeder Tages- und Nachtzeit nach Burgern verlangte und das am liebsten im Stundentakt (durch das fehlende Sättigungsgefühl, wollten unsere Buben, das was ihnen schmeckte, permanent essen). Das dies nicht möglich war, war klar, allerdings führte es oft zu großen Wutanfällen. Auch Martin, der seine Gute-Nacht-Flasche nach wie vor heiß liebte, war nicht davor gefeit. Denn am liebsten hätte er im Bett noch einen Burger gegessen, um diesen dann von seiner Milchflasche als Nachspeise begleiten zu lassen.
An diesem Abend schauten wir alle zusammen noch eine Folge Tut-Tut-Flitzer, bevor es anschließend ans Fertig machen und ins Bett gehen sollte. Nebenbei sagten wir den Kindern immer, wie lange sie noch Zeit hätten und verwiesen auf den visuellen Time-Timer, der ihnen die verbleibende Zeit anzeigte. Als ich den Kindern mitteilte, dass nur mehr zwei Minuten übrig waren, sprang unser kleiner Martin plötzlich auf und rannte zur Brotlade. Zurück kam er mit einem Teller und den Burgerbrötchen – und natürlich mir der Aufforderung, man möge daraus einen richtigen Burger machen. Der große Martin erklärte ihm, dass es vor nicht einmal einer halben Stunde Abendessen gegeben hatte und Burger nicht mehr am Menüplan stand, sondern nur noch die Gute-Nacht-Flasche. Unser kleiner Martin sah das anders und bestand auf seinen Burger. Während die Beiden ihre Diskussion fortführten, holte ich mein Handy um die Szene aufzunehmen – aus einem ganz simplen Grund. Unser Martin maskierte außerhalb des häuslichen Umfelds unglaublich gut. Das heißt im Kindergarten oder bei Therapien machte er alles ganz toll mit, zeigte dort auch keine Überforderung oder Zorn – nur um dann zu Hause komplett zu explodieren – was wiederum, für mich gefühlt, nicht ernst genommen und  geglaubt wurde, vor allem im Hinblick auf seine Zerrissenheit in der Situation.
Auch wenn ich den Ablauf der Meinungsverschiedenheit zwischen Martin und seinem Papa schon sehr genau kannte und wusste, dass das ganze nur ein kleiner Disput werden sollte, filmte ich es also mit. Nach einem kurzen „Nein“- „Doch“ haute Martin seinen Papa kurz mit dem Teller. Was ihm eigentlich auch im gleichen Moment wieder leid tat. Vor allem da der große Martin ein Weinen imitierte (wenn auch nicht besonders gut). Da er nicht wusste, wie er jetzt richtig reagieren sollte, versuchte er sich wieder auf den Fernseher zu konzentrieren, nur um beim Abschalten, dann wieder um einen Burger zu betteln. Nach einer langen Erklärung und dem Versprechen meinerseits, dass Papa ihm am nächsten Tag Burger macht, ließ sich unser kleiner Martin, dann doch noch dazu erweichen, von Burger zum nochmaligen Abendessen, abzusehen.
Als dann endlich Ruhe eingekehrt war und die Kinder aneinander gekuschelt schliefen, besprachen mein Mann und ich noch den Tagesablauf, für den nächsten Tag, wenn ich nicht zu Hause sein würde. Da mein Mann arbeiten und ich fast immer mit den Kids zu Hause war, war es wichtig diese Dinge nochmals durchzugehen. Ich musste meinem Mann genau erklären, was wann, ihm Tagesablauf, an die Reihe kam und ihn daran erinnern, nicht davon abzuweichen. Das war an Tagen, die aus unserer Struktur fielen, ganz besonders wichtig, vor allem dann, wenn ich ausfiel. Die Kinder waren am nächsten Tag zum Glück recht gut gelaunt und bevor ich losfuhr um mein Tattoo fertig machen zu lassen, spielten wir zusammen noch Lego – natürlich nur Lego Duplo, da unser Miro, dass normale Lego nach wie vor in den Mund nahm. Während Jozefina ihren Bauernhof baute, machten sich die Jungs daran ein Windrad zu bauen. Und auch wenn es währenddessen immer mal wieder zu einem kurzen Handgemenge kam, war ich doch begeistert und glücklich darüber, dass es mittlerweile möglich war, dass sie gemeinsam an etwas arbeiteten.
Ich fuhr also guten Gewissens zum Tätowierer. Während ich dort lag und dem Summen der Tätowiermaschine lauschte, dachte ich darüber nach, wie unglaublich viel sich bei unseren Burschen getan hatte, vor allem bei Martin. All diese Angst-machenden Prognosen zu Beginn, all die Schwierigkeiten, durch die wir gewatet sind und doch war da so viel positive Veränderung. Klar, unser Tagesablauf und unser ganzes Leben unterschied sich von den meisten Familien, die wir kannten – dennoch waren wir glücklich. Und dann kam es plötzlich wieder – dieser leise Anflug von Traurigkeit. Wir hatten uns immer vier Kinder gewünscht und doch hatten wir uns schweren Herzens und nach vielen langen Gesprächen, vor einem Monat endgültig dagegen entschieden und Martin ließ eine Vasektomie durchführen. Wir wussten, dass ein weiteres Kind gegenüber jedem einzelnen Familienmitglied unfair wäre, da es so schon schwer war jedem gerecht zu werden und vor allem auch, da ich wusste, dass, so sehr ich meine Kinder auch liebte, würde ich kein weiteres Kind mehr schaffen – nicht psychisch und nicht physisch, denn ich war jetzt schon permanent über meiner Belastungsgrenze. Und auch wenn ich wusste, dass dies die einzige richtige Entscheidung war, so blieb doch immer ein kleiner Restschmerz, der immer dann an die Oberfläche kam, wenn gerade Ruhe in meinem Kopf einkehrte. Zum Glück, unterbrach der Schmerz auf der Haut diesen Gedankengang.
Schließlich verkündete mir mein Tätowierer, dass er fertig war. Ich schaute mir das fertige Kunstwerk an – auf das ich fast einen Monat hatte warten müssen, bis es komplett war – und wer mich kennt weiß, dass Geduld absolut nicht meine Stärke ist. Für mich – war es perfekt geworden. Meine drei Zwerge gemeinsam – Seite an Seite, eine Brücke über einem reißenden Fluss, die uns zeigen soll, dass man überall einen Weg findet und im Hintergrund der bunte Farbenschleier – in den Farben des Regenbogens – in den Farben des Spektrums.
Als ich nach Hause kam, wollten der kleine Martin und Jozefina unbedingt das fertige Tattoo sehen. Miro kam auch dazu als er sah, dass mein Bein plötzlich bunt war. Während wir am Boden saßen, strich Martin mit seinen kleinen Fingern sanft über das Bild. Er freute sich, als er sich selbst und auch Jozefina und Miro darauf fand. Also fing er an, mit den Fingern auf die Kinder am Tattoo zu tippen und dabei die Namen zu sagen. Schließlich zeigte er auf den großen Baum und sagte: „Mama“. Ich erklärte ihm, dass dies ein Baum ist und nicht ich. Er aber blieb dabei: „Das ist Mama, Mama trägt uns immer. Mama ist stark.“ Und plötzlich hatte ich einen riesigen Kloß im Hals und konnte die Tränen kaum noch halten. Auch wenn mein Martin in letzter Zeit anfing auf die Emotionen in seinem Umfeld zu achten und darauf zu reagieren, hätte ich mit so einem Gedankenging niemals gerechnet und das berührte mich auf ganz vielen Ebenen. Während ich meinen kleinen Mann in den Arm nahm und kuschelte, dachte er sich wohl „genug der Rührseligkeit“, schrie auf, boxte auf meinen Oberschenkel und verlangte nach einem Burger….

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